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Von Aliens, Zombies und kopflosen Hühnern

William Shatner sitzt neben einer Wachsfigur von sich selbst als Captain Kirk
Der Mann und die Legende: William Shatner (sitzend) bei der Enthüllung seiner Wachsfigur als Captain James T. Kirk (stehend) aus "Star Trek" bei Madame Tussauds Hollywood in Los Angeles (2009). Keystone / Dan Steinberg

Alexandre O. Philippe wird als manischer Sezierer amerikanischer Popkultur gefeiert. Der Schweizer Filmemacher erzählt am Karlovy Vary Film Festival in der Tschechischen Republik von seinem neusten Dokumentarfilm über den legendären Schauspieler William Shatner – den ursprünglichen Captain Kirk im Raumschiff Enterprise.

Wie landet ein junger Schweizer Filmfreak aus Lausanne an der Peripherie Hollywoods und dekonstruiert dessen Obsessionen in Dokumentarfilmen?

Diese Frage drängt sich auf, wenn man einen Blick auf die Filmografie von Alexandre O. Philippe wirft, der sich als Kartograf amerikanischer Popkultur und der sich um ihre Avatare scharenden Fangemeinden einen Namen gemacht hat.

Philippes Inspirationsquellen sind tief verwurzelt in der Hollywood-Kultur: George Lucas und Star Wars, David Lynch, die Alien-Reihe oder die Duschszene in Alfred Hitchcocks Psycho (1960).

Mike, das kopflose Huhn, das 1945 geköpft wurde und 18 Monate überlebte, Trekkies, die fliessend Klingonisch sprechen, aber auch Zombiefilme aller Art sind weitere seiner Obsessionen.

In seinen Werken greift Philippe ikonische Figuren auf, die in unterschiedlichem Ausmass alles verehrende Fans und eine eigene multidimensionale Überlieferung gefunden haben.

Alexandre O. Philippe auf dem Karlovy Vary Film Festival.
Alexandre O. Philippe auf dem Karlovy Vary Film Festival. Karlovy Vary Film Festival

Philippes neuster Dokumentarfilm beschäftigt sich mit dem kanadischen Schauspieler William Shatner. Er gehört zu den dienstältesten, engagiertesten und beliebtesten Schauspielenden der Popkultur und ist vor allem für seine Rolle des Captain Kirk in der originalen Star-Trek-Serie (Raumschiff Enterprise, 1966-1969) und den sieben darauffolgenden Kinofilmen (1979-1994) bekannt.

Der heute 92-jährige Shatner ist noch immer aktiv und hat gerade ein neues Album mit autobiografischen Liedern aufgenommen.

“Ich schätze, er betrachtet unseren Film als sein Vermächtnisprojekt”, meint Philippe, als wir uns zu einem Gespräch in der tschechischen Kurstadt Karlovy Vary treffen.

Auf dem örtlichen Filmfestival wird sein Dokumentarfilm You Can Call Me Bill gezeigt, nachdem dieser auf dem South by Southwest Festival in Austin, Texas, seine Premiere feierte.

“Wir haben uns drei Tage lang zu Interviews getroffen; von ihm habe ich dabei keinerlei Zurückweisung erfahren”, erzählt Philippe.

“Ich hatte eine Vorstellung davon, in welche Richtung ich unsere Gespräche lenken wollte, aber gleich im ersten Interview begann er einen Monolog zum Tod seines geliebten Hundes, über dessen leblosen Körper er als Kind gestolpert war. Es war so düster.”

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Unser Gespräch findet in einem imposanten, von der Öffentlichkeit abgeschirmten Konferenzraum statt, in dem wir uns über das ständige Stimmengewirr, die schlurfenden Schritte und das Klirren der Gläser aus den unzähligen Hotelbars hinweg unterhalten.

Philippe und ich sitzen uns in einem Paar schwammigen, roten Drehstühlen mit hoher Rückenlehne gegenüber – jenen nicht unähnlich, in denen Kirk und Spock, die beiden ikonischen Star-Trek-Figuren, auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise sassen.

Philippe selbst wuchs unter einer anderen Art von Pop-Kultur-Königlichen auf. Als Teenager besuchte er das renommierte Institut Florimont in Genf. Sein bester Freund war Edoardo Ponti, der Sohn von Sophia Loren und dem berühmten Produzenten Carlo Ponti.

Gemeinsam konsumierten die zwei Freunde nächtelang Horrorfilme, die in der Schweiz nicht erhältlich waren – auf amerikanischen VHS-Kassetten, die sie dank Beziehungen in der Familie erwerben konnten.

“Während meiner Tage bei Edoardo waren wir im Grunde von der Idee des Films umgeben. Vom Ruhm”, erzählt er mir. “Skifahren mit Edoardo, mit seiner Mutter – ich hatte grosses Glück. Auch weil wir in jenen Jahren einfach so viele Filme gesehen und darüber gesprochen haben.”

Philippes Verbindungen zu seinem Heimatland sind nicht sonderlich ausgeprägt. Das einzige heimatverbundene Element in seiner Filmografie ist H.R. Giger, der Schweizer Künstler, der für das Design der Kreaturen im Original-Alien verantwortlich ist und der in Philippes Dokumentarfilm Memory aus dem Jahr 2019 im Mittelpunkt steht: The Origins of Alien.

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Noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr verliess er die Schweiz, um an der New York University (NYU) szenisches Schreiben zu studieren. Schnell fühlte er sich angezogen von den Kuriositäten einer alles verschlingenden Kultur in seiner neuen Wahlheimat.

Er drehte Filme über Magic Mike (der Name des kopflosen Huhns) oder über die Stelle auf dem Asphalt in Dallas, Texas, wo 1963 eine Scharfschützenkugel den Kopf von US-Präsident John F. Kennedy durchbohrte.

Schaut man sich Philippes Werk an und lauscht seinen höflichen, aber zurückhaltenden Antworten auf Fragen zur Schweiz, bekommt man das Gefühl, dass sein Heimatland nicht die gleiche verrückte Anziehungskraft ausübt wie die Vereinigten Staaten und der Mythos Hollywoods.

“Ich wollte schon immer einen Film über ein Schweizer Thema machen, mit Schweizer Unterstützung, aber es hat sich bisher nicht ergeben”, sagt er.

“Und meine Filme dort zeigen… Ich war schon am Sundance, in Venedig, in London. Auf anderen grossen Festivals. Aber besonders Locarno, das ein Traum von mir ist, entzieht sich mir bisher. Ich brauche einfach den richtigen Film zur richtigen Zeit.”

Alexandre O. Philippe am South by Southwest Festival
Alexandre O. Philippe auf dem letzten South by Southwest Film Festival (USA). Der Filmemacher hat seine Filme schon an mehreren Festivals gezeigt, aber noch nie in der Schweiz: “Locarno entzieht sich mir immer noch”. 2023 Invision

Hat Philippe das Gefühl, dass er diese gewaltigen kulturellen Themen, zu denen auch Shatner gehört, aufgrund seiner Distanz als Schweizer in Amerika auf eine andere Weise sehen kann?

“Von klein auf habe ich von Amerika geträumt, vom Bild Amerikas – ob wahr oder falsch. Und ich glaube, alle meine Filme profitieren von dieser Distanz, von meiner Schweizer Herkunft”, sagt er.

“Egal wie gut ich in Amerika integriert bin, ich werde immer diese Perspektive auf die Dinge haben. Schliesslich habe ich die meisten dieser Filme zum ersten Mal in französischer Synchronisation [in Lausanne und Genf] gesehen.”

Ich sage Philippe, dass sein Shatner-Film aus einem etwas anderen Holz geschnitzt ist als seine anderen kulturellen Sektionen, da er sich weniger mit dem kulturellen Detritus befasst, der mit Shatners Namen verbunden ist, als mit den Besonderheiten der Person Shatner selbst – der Schauspieler ist auch für seine anthologisch schlechten schauspielerischen Leistungen bekannt.

Während des gesamten Dokumentarfilms wird man das Gefühl nicht los, dass sogar Shatners Ehrlichkeit selbst eine Performance ist. “Er schauspielert, seit er sechs Jahre alt ist. Das sind fast neunzig Jahre Schauspielerei, nicht? Natürlich ist er in gewisser Weise ständig am Schauspielern.”

“Ich sah mich mit der Möglichkeit konfrontiert, William Shatner in einem anderen Licht zu zeigen, als es das Publikum gewohnt sein mag”, fährt Philippe fort.

“Er ist ein sehr introspektiver, nachdenklicher Mensch. Aber er hat auch ein bemerkenswertes, erfülltes Leben gelebt. Er war im Weltraum. Er ist mit Haien geschwommen. Das ganze Programm. Er hat Lektionen für uns.”

Erinnert er sich an einen bestimmten Moment, als er dem Schauspieler zum ersten Mal begegnete? “Nun, [Shatner] war seit meiner Kindheit ein Teil meiner Psyche. Und die Werbespots, in denen er [für Priceline, ein Online-Reisebüro] auftrat, waren jahrelang überall zu sehen. Er ist also in den USA allgegenwärtig, auch jetzt noch.”

Was You Can Call Me Bill so interessant macht, sind nicht nur Shatners eigene Erkenntnisse über sein Leben oder seine amüsante Theatralik in Talkshows, sondern auch dessen unverblümte Darstellung von Shatner.

Philippe füllt jeden Winkel dieses cineastischen Porträts mit allem, was dazugehört: die Werbespots, die trällernden Bühnenshows, die Filmausschnitte (einige, aus dem Archiv ausgegegrabene, weniger bekannte Werke, verblüffen durch ihre Subversion von Shatners Image), die Star Trek-Remixe, die öffentlichen Auftritte auf Kongressen und in Talkshows, das Filmmaterial von seiner Reise ins All mit der Blue Origin-Rakete von Jeff Bezos.

William Shatner und Jeff Bezos nach ihrem Flug ins All
Das von Blue Origin veröffentlichte Bild zeigt Jeff Bezos (rechts) bei der Begrüssung von William Shatner (links) nach der Landung der New Shepard NS-18-Mission ins All, als dieser in der Nähe von Van Horn, Texas, USA, am 13. Oktober 2021 aus der Kapsel steigt. Keystone / Blue Origin / Handout

Im Kern dreht sich der Dokumentarfilm jedoch um die Traurigkeit, die Einsamkeit, die vielleicht überraschende Melancholie, die neben seiner Schmalzigkeit und Heiterkeit den Kern von Shatners kultureller Präsenz ausmacht. Dies spiegelt sich in der Unterteilung von You Can Call Me Bill in metaphysisch geprägte Kapitel wider.

Der entscheidende Moment im Film und in der kollektiven Vorstellung von Shatner ist sein Ausflug ins All. Nach der Rückkehr der Rakete auf die Erde war er im Gegensatz zu seinen Mitreisenden mürrisch, zurückgezogen und beunruhigt über das, was ihm begegnet war.

Um ihn herum feierten die Ingenieur:innen, Astronaut:innen und der Amazon-Chef selbst, liessen Champagnerflaschen knallen und grinsten von Ohr zu Ohr.

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“Was Bill so bewegt hat, ist, dass er den Planeten Erde verlässt, sich in der Dunkelheit umschaut und es für ihn einfach aussieht wie der Tod. Dieser ist in seinem Leben sehr präsent, und er ist auch in unserem Film sehr präsent”, sagt Philippe.

“Das macht den Film zu einer ganz anderen Art von Film über William Shatner. Es ist sicherlich nicht der Film über William Shatner, den man erwarten würde. Und darauf bin ich stolz.”

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

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