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Neues Gefängnis löst die Probleme nicht

In einigen Zellen in Champ-Dollon müssen sich fünf Insassen eine Dreierzelle teilen. swissinfo.ch

Trotz dem Bau eines neuen Gefängnisses in Genf platzt Champ-Dollon, die überfüllteste Haftanstalt der Schweiz, aus allen Nähten. Im Januar war in der Nähe von Champ-Dollon la Brenaz eröffnet worden, ein moderner Gefängnisbau für 18 Millionen Franken.

Überbelegung ist in Champ-Dollon chronisch. Im Gefängnis, das 1977 für 270 Insassen gebaut wurde, sind im Moment 450 Personen inhaftiert.

Laut Kritikern hat die Überbelegung Konsequenzen für die Haftbedingungen der Insassen: Ungenügende Hygiene und häufig wechselnde Sexualkontakte. Auch die Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheit können gefährdet sein.

Unter diesen Bedingungen sei es schwierig, in Champ-Dollon die verschiedenen Kategorien von Häftlingen zu trennen, bemängeln die Kritiker. Und wegen fehlenden Arbeitsmöglichkeiten infolge der Überzahl an Gefangenen müssten die meisten von ihnen 23 von 24 Stunden im Tag in ihren Zellen verbringen.

Letztes Jahr hatte eine Expertengruppe die Bedingungen in Champ-Dollon massiv kritisiert. Die Einrichtungen seien ungenügend und die Länge der Untersuchungshaft zu lange.

Der Bericht war vom Genfer Kantonsparlament in Auftrag gegeben worden, nachdem es 2006 im Gefängnis zu einer Meuterei gekommen war. Die Insassen drohten wegen angeblicher Brutalität durch die Polizei und langsamem Rechtsweg mit Hungerstreik.

Damien Scalia, Mitglied des Gefängnis-Komitees der Schweizerischen Menschenrechtsliga kritisierte, in Sachen Überbelegung und anderen Fragen seien in Champ-Dollon kaum Fortschritte erzielt worden.

“In den nächsten zweieinhalb Jahren hat sich nichts verändert”, sagte er gegenüber swissinfo. “Uns wurde gesagt, La Brenaz werde mehr Platz bringen, und in Champ-Dollon würden es dann weniger als 400 Personen sein. Jetzt ist La Brenaz voll, und in Champ-Dollon leben noch immer 450 Häftlinge.”

Läuten die Alarmglocken?

Der neue Direktor von Champ-Dollon, Constantin Franziskakis, seit dem 1. Mai im Amt, kennt diese wiederkehrenden Probleme. Er war von 2000-2001 verantwortlich für das Gefängnis und später sieben Jahre lang Leiter des Genfer Amts für Gefängnisse und Haftanstalten.

“Bei der Zahl von 350 läuteten wir die Alarmglocke, jetzt sind es 450, und wir sind weniger alarmiert als vor acht Jahren. Dass heisst aber nicht, dass die Lage weniger schwierig ist – für beide Seiten, für die Häftlinge und das Personal”, sagt der 45-Jährige gegenüber swissinfo.

“Realität ist, dass wir ein Gefängnis mit 450-500 Insassen haben, da kann man nichts machen, die Arbeit muss weitergeführt werden. Man kann sich nicht die ganze Zeit über beschweren, damit ändert sich nichts.”

Er versuche, einen hohen Betriebs-Standard zu erreichen, was aber nicht möglich sei. “Damit kann ich aber leben, wenn ich unsere Lage mit jener in anderen Ländern vergleiche.”

La Brenaz habe jedoch “wichtige Veränderungen bei den Bedingungen für alle Gefängnisbewohner erbracht”, so Franziskakis.

Hartes Durchgreifen

Franziskakis will nicht näher auf die Ursachen der Überbelegung in Champ-Dollon eingehen.

“Es gehört nicht zu meinen Kompetenzen. Ein Beamter soll die Gründe für überfülle Gefängnisse nicht kommentieren, sondern deren Auswirkungen bewältigen”, sagt er.

Laut Kritikern ist Genf voll an Widersprüchen: Einerseits würden Sünder hart angefasst und eingesperrt, auf der anderen Seite wolle die Stadt sich weder mit den Folgen konfrontieren, noch genügend Ressourcen zur Verfügung stellen.

“Die Probleme machen nicht die Gefängnisse, sondern die repressieve Politik in Genf, wo wir jeden für alles und jedes festnehmen. Dazu kommen die Länge der Untersuchungen und die routinemässige Anwendung der Untersuchungshaft – der Hauptgrund für die Aufnahme in Champ-Dollon”, sagt Scalia. “Es werden Leute eingesperrt, die nicht hier sein sollten.”

Das Strafverfahren müsse sich ändern, und Inhaftierung sei nicht die einzig mögliche Sanktion. “Wir müssen Alternativen einführen, wie gemeinnützige Arbeit oder elektronische Fesseln.”

Mit dem Finger zeigt er auf den Genfer Staatsanwalt Daniel Zappelli, der im April mit 60% der Stimmen wiedergewählt worden war und ein “Null-Toleranz-Programm” verfolgt.

“Wir sollten nicht über überbelegte Gefängnisse reden, sondern den Mangel an verfügbaren Gefängnisplätzen”, hatte Zapelli im April in der Genfer Zeitung Le Temps erklärt.

Mehr Platz

So planen die Behörden nach dem Bau von La Brenaz die Gefängnis-Infrastruktur zu verbessern und zu erweitern. Ende Juni kommt das 70-Millionen-Franken-Projekt “Curabilis” vors Volk – eine Haftanstalt für Straftäter mit psychiatrischen Problemen. Das Projekt soll 2010-2011 eröffnet werden und zusätzlich 90 Plätze in Champ-Dollon schaffen.

Michel Demierre, seit 27 Jahren Gefängnisangestellter in Champ-Dollon, glaubt nicht, dass mehr Platz das Problem der Überbelegung lösen kann. “Es bringt nichts. Wenn man mehr Platz in Gefängnissen baut, ist er bald einmal voll”, erklärt er.

“Auch wenn die Idee von La Brenaz ursprünglich gute Absichten hatte, zeigen die Fakten, dass die Strategie nicht funktioniert. Neue Gebäude bauen heisst noch nicht, dass sich andere leeren. Die Natur liebt Leerräume nicht”, fügt Scalia hinzu.

swissinfo, Simon Bradley, Genf
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

In der Schweiz gibt es rund 120 Haftanstalten mit Platz für 6741 Insassen.

2007 waren insgesamt 5715 Personen hinter Gitter.

Frauen machen 6% der Häftlinge aus, Teenager 1%.

Am 5. September (Stichtag) befanden sich 1653 Personen in Untersuchungshaft, 3586 sassen ihre Strafe ab, 403 warteten auf ihre Ausschaffung, weitere 73 waren aus verschiedenen Gründen inhaftiert.

Fast 80% der Häftlinge waren Ausländer, und mehr als die Hälfte von ihnen hielt sich illegal in der Schweiz auf.

Ausländer machten überdies fast zwei Drittel aller Verurteilten aus.

Champ-Dollon, das 1977 für 270 Insassen gebaut worden war, beherbergt im Durchschnitt fast doppelt so viele Personen. Im Oktober 2006 war das Gefängnis mit über 500 Häftlingen massiv überbelegt. Im Juni waren es 450 Insassen. Rund 60% von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft.

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