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Tanz, Performance, oder Zirkus: Wohin geht das Schweizer Theater?

Two men playing Schwingen
Simon Hitzinger

Das Schweizer Theatertreffen präsentierte dieses Jahr in Chur und Liechtenstein herausragende Schweizer Stücke und machte deutlich, was mit dem neuen Förderlabel "darstellende Künste" gemeint ist.

Theater oder Performance? Zirkus oder Tanz? Lecture Performance oder Dokumentartheater? Digitalprojekt oder Sprechtheater? Dieses Spartendenken ist zunehmend passé, wie die Selection des Schweizer Theatertreffens gezeigt hat, das Mitte Mai im Graubünden und in Liechtenstein stattfand.

In einer Performance wird etwa das klassische Ballett Giselle in Einzelheiten zerpflückt, und auch der Schweizer Nationalsport Schwingen muss dran glauben. Daneben beschäftigt sich ein Dokumentartheater mit der Swinger-Szene.

Andere Produktionen setzen auch auf Überschreitungen der Gattungsgrenzen, so eine Produktion mit Varieté-Charakter, “Music Hall”, vom Tänzer und Choreograf Marco Berrettini, dem Bauchredner und Puppenspieler Jonathan Capdevielle und dem Kabarettist Jérôme Martin.

Der zirzensische und bezirzende Tod

Die Eröffnung der seit 2014 stattfindenden “Werkschau”, dem Schweizer Theatertreffen, bestritt der Zürcher Martin Zimmermann mit “Danse Macabre”. Darin fällt eine White-Trash-Familie aus dem Rahmen und dem eigenen Haus auf einer Müllkippe. Die Familie wird umgarnt vom clownesken, tanzenden Tod persönlich, dem zähneklackernden, kokettierenden Zimmermann.

Die vier Mitwirkenden von Danse Macabre
Die vier Mitwirkenden von Danse Macabre. Basil Stücheli

Doch sie sehen ihn nicht, diesen liebenswürdigen Bösewicht, der die Fäden ihres Daseins in den Händen hält. Choreografisch und artistisch höchst anspruchsvoll, wie sich diese Familie hier gegen die Schwerkraft, die Zermüllung ihres Daseins, die Widersprüche des Lebens, gegen Geschlechterbilder, den dominanten Schönheitsbegriff, Gewalt und eben letztlich diesen Tod wehrt. Und das weitgehend ohne Worte.

Zimmermann, der gelernter Dekorationsgestalter ist, geizt nicht am Bühnenbild, auch nicht an den witzigen und absurden Momenten. Der Tod kann hier sowohl aus dem Sarg auferstehen als auch WC-Papier zur Friedensfahne umnutzen.

Und sehr elementar: die Musik. Sie stammt vom Lausanner Jazz-Pianisten Colin Vallon und bietet harte, metallische Beats und sphärisch, elegische Momente, die perfekt zu dieser verirrten und sich selbst überlassenen Familie passen, die sich gegen das Offensichtliche wehrt, so gut sie kann.

Verschwimmende Grenzen

Der Clown, dem Zimmermann das Stück “Eins Zwei Drei” widmete, fasziniert ihn gleichermassen wie der Tod, das Bühnenbild, starke, physische Choreografien, Präzision, Pantomime und artistische Zirkusmomente des süssen Schreckens.

Zimmermann – vom St. Galler Tagblatt als “einziger Buster Keaton der Schweiz” bezeichnet – schloss 1995 die Hochschule Centre National des Arts du Cirque (CNAC) in Paris ab, tourte danach mit seinem Diplomstück direkt drei Jahre um die Welt. Danach arbeitete er lange mit dem Klangkünstler Dimitri de Perrot zusammen.

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Genregrenzen sind einem wie ihm unbekannt. So gesehen ist es umso aussagekräftiger, dass Zimmermann 2021 den mit 100’000 Franken dotierten “Schweizer Grand Prix Darstellende Künste” des Bundesamts für Kultur (BAK) gewonnen hat.

Letztes Jahr wurden die separat für Tanz und Theater vergebenen Preise zusammengeschlossen – unter dem Label “darstellende Künste”. Das ist der Begriff der Stunde, den sowohl das BAK in seinem umgestellten Fördersystem verwendet, ebenso das Migros Kulturprozent.

Es ist der explizite Vorsatz des BAK, mit diesen Preisen auch Kleinkunst, Performance, zeitgenössischen Zirkus, Figurentheater und Strassenkünste mit auszuzeichnen. Insofern zeigt sich mit dieser ersten Prämierung ein Wille, nicht das Theater überhandnehmen zu lassen. Und: zeitgenössischen Zirkus vermehrt in dieses Feld zu integrieren.

Bisher steht dieser “Sparte” nach wie vor die Unterhaltung am Rande zu: etwa am Seeufer am Theaterspektakel in Zürich, an Strassenfestivals oder mit vereinzelten Programm-Schwerpunkten innerhalb der Theatersaison wie etwa dem Festival Zirka Zirkus der Kaserne Basel oder Cirqu’ in Aarau.

Alte Texte mal anders

Und was bot die diesjährige Auswahl noch? Die ganz hohe Kunst: Ovids in Hexametern verfasste, 2000 Jahre alte Metamorphosen. Wie grössenwahnsinnig ist es, so einen alten Schmonk zu inszenieren?

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Wenn man die 3,5-stündige Inszenierung des “niemals endenden Liedes in grosser Besetzung mit Band” des neu am Theater Basel tätigen Regisseurs Antú Romero Nunes gesehen hat, ist diese Frage obsolet.

So viel Witz, Spielfreude in allen Registern, Zeitgeist – es gibt auch Texte vom Ensemble – und sphärische Live-Musik (Anna Bauer, Johannes Hofmann). Verrannte Götter, die so viel Menschliches an sich haben – köstlich und erschütternd.

Anne Haug brilliert als Gottvater Iuppiter: ein ewiggelangweilter, ewiggeiler, übergriffiger und vergewaltigender Iuppiter mit unzerrüttbarem Paternalismus, der am Ende im Altersheim in sich zusammenschrumpft.

Er wirkt wie ein Regisseur der alten Garde, stets “unamused”, zurückgelehnt in seinem Heiligen Stuhl, an dem die Gruppe mit einer Intervention rütteln will. Und seine Blitze sind Witze – also Knallerbsen.

Die Götterdramen könnten aus überzeichneten Telenovelas oder Arthouse-Filmen stammen, sie haben Monty-Python-Witz und bieten elend tiefgründige Momente der Klarsicht.

Dieses Stück ist eine Ode ans Erzählen und die Kraft der Musik, aber auch ein Metakommentar auf den Theaterbetrieb. Das Stück zelebriert Theater nach allen Regeln der Kunst und macht einen alten Text mehr als zugänglich. Das ist hohe Kunst.

Oder Schwingen für mehr Zartheit

Die Kunst der sanften Kritik mit dem Körper: Johanna Heusser, aufstrebende Basler Choreografin, untersucht im Stück “Der Churz, dr Schlungg und dr Böös” das Schwingen als kulturelle Körperpraxis.

In dieser feinfühligen Performance, in der sich zwei Männer im Sägemehl wälzen, aber bevor sie den anderen auf den Rücken zwingen respektvoll fragen, ob gut ist, geht es um mehr als Kritik an einer patriotisch-ländlichen Tradition. Es geht um behutsame, tänzerische, lustige, fürsorgliche, intime und zärtliche Bewegungen zwischen Männern.

Kein Wunder, tourt das Stück sehr intensiv durch die Schweiz. Die zwei Performer singen sich mit erotischer Note ins Maul, ohne dass es je überzeichnet wirkt. Und sie erzählen Kampfgeschichten und lachen unverkrampft. Schliesslich kreieren sie eine wunderschöne Berglandschaft mit Trockeneisnebel, in der sie zum letzten Mal ansetzen – ob zum Tanz, zum Ausruhen oder zum Kampf, das bleibt im Dunkeln.

So dekonstruiert Heusser leichtfüssig den Pathos des harten Schwingens, das sie und ihre Performer über ein Jahr lang in einem Verein gelernt haben.

Oder Swingen für die Ehe

Dokumentartheater, der O-Ton für die Bühne: “Swinger” ist auch eine Produktion aus der freien Szene vom Churer Regisseur Manfred Ferrari und behandelt mit Schauspieler:innen und Musikern das Thema Swingen.

Szene aus Swinger
Szene aus “Swinger”. Momir Cavic momircavic@gmail.com

Die Texte stammen aus Interviews mit Menschen aus der Szene: Normalos, meist etwas älter als jung, Eltern, Arbeitskollegen und auffallend viele Paare. Sie erzählen rührend und selbstverständlich davon, wie sie es bewundern, wenn der Ehefrau beim Sex mit einem anderen die Brillengläser anlaufen, und wie sie hier nicht fremdgehen, sondern gemeinsam Abenteuer erleben.

Ein spannender Effekt stellt sich hierbei ein: Je ausgefallener ihre Kostüme und je unverblümter die Schilderungen, desto weniger bedrohlich oder fremd die Geschichten über diese heimliche, aber existierende Welt. Man glaubt ihnen gern, ja man gönnt ihnen, dass sie ihre Ehe so gerettet haben. Und damit hat einen das Dokumentartheater da, wo es einen haben will: bei der Glaubwürdigkeit im Theater.

Wo hört Theater auf?

Alles in allem? “In dieser Sélection haben wir viel Bewegungstheater. Aktuell wird so wenig ‘l’Art pour l’art’ gemacht, alle verhalten sich auf ästhetische oder inhaltliche Art zur Aktualität: Nähe, Distanz und Körper stehen neuerdings zur Diskussion”, sagt Julie Paucker, künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffens.

Die erfahrene Dramaturgin, Expertin für mehrsprachiges und transnationales Theater, übt Ihre Rolle als künstlerische Direktorin erstmals allein aus und verleiht so der Selection und dem Festival ein Gesicht.

Viele Jahre war ein Kuratorium für die Stückauswahl zuständig. Seit dieser Ausgabe fällt sie die Auswahl selbst, mit Hilfe von drei Scouts in der Romandie und im Tessin. Ihr Theaterverständnis, das sich in der Sélection spiegelt, ist eindeutig – eindeutig weit und offen: “Ich fände es sehr schwer, zu beschreiben, wo Theater aufhört.”

Das Schweizer TheatertreffenExterner Link fand vom 18. bis 22. Mai in Graubünden (Theater Chur und Postremise Chur) und am TAK Liechtenstein statt. Weitere Werke der Selection:

  • “Lingua madre. Capsule per il future” – Festival internazionale del teatro (FIT Lugano)
  • “Music all” – Marco Berrettini, Jonathan Capdevielle, Jérôme Marin
  • “Giselle…” – François Gremaud
  • “Fedra” – Leonardo Lidi

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