Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Theater als Naturerfahrung

Die Realität als Kulisse: Ueli und Vreneli auf "ihrem" Bauernhof.

In den letzten Jahren erleben Freilicht-Aufführungen von Volkstheatern einen regelrechten Boom. Auch der Gotthelf-Roman "Ueli der Knecht" wird vor ausverkauften Plätzen im Freien gespielt.

Diese Entwicklung widerspiegle das zunehmende Bedürfnis nach unvermittelten Begegnungen und naturnahen Erlebnissen, sagt der Theaterwissenschafter Stefan Koslowski.

Die Kulisse ist perfekt: Eingebettet in den Emmentaler Hügeln, umgeben von gefleckten Kühen und grünen Wiesen, steht ein stattliches Bauernhaus. Neben dem Hof eine alte Linde. Ein Steinbrunnen, darum Frauen in Trachten, die Haare zu Zöpfen geflochten.

Eine Szenerie wie aus dem 19. Jahrhundert – nur die Magd mit dem Handy und die Bäuerin mit dem MP3-Player passen nicht ins Bild.

Hier in Brechershäusern bereiten sich Laienschauspielerinnen und -schauspieler des Glungge-Theaters auf ihren Auftritt vor: Gespielt wird das Dialektstück “Ueli dr Chnächt”, nach einem Roman von Jeremias Gotthelf.

Emmentaler Boden als Kulisse

Von überall her pilgern an diesem lauen Sommerabend die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Rucksack und Turnschuhen ins Emmental: Sie wollen die hindernisreiche Liebesgeschichte vom tüchtigen, aber widerborstigen Knecht Ueli und dem braven Vreneli hautnah mitverfolgen.

Die Besucher belagern richtig gehend den “Glunggehof”, der heute in fünfter Generation bewirtschaftet wird – werfen hier einen Blick durchs Stubenfenster, strecken dort den Kopf in den Kuhstall. Vor dem Hof versperrt ein Reisecar den Weg.

Die Kulisse ist eine Attraktion: Denn auf diesem Stück Emmentaler Boden hat der Schweizer Regisseur Franz Schnyder 1954 mit dem Leinwand-Traumpaar Hannes Schmidhauser und Liselotte Pulver “Ueli der Knecht” verfilmt – und damit eine der erfolgreichsten Schweizer Produktionen aller Zeiten geschaffen.

Und auf diesem Hof – der abgesehen von den Telefonmasten und dem davor geparkten Spielzeugtraktor aus Plastik heute noch gleich aussieht wie zu Gotthelfs Zeiten – findet die Erfolgsgeschichte ihre Fortsetzung: Bereits nach einer Woche waren alle 28 Freilichttheater-Vorstellungen ausverkauft.

Ältere Generation von Gotthelf begeistert

Die Geschichte um Liebe, Macht und Neid fesselt die Zuschauer auch heute noch.

Vor allem ältere Leute sind begeistert von Gotthelfs Geschichte über den Knecht Ueli, der sich allem Widerstand zum Trotz zum Pächter emporarbeitet. Der sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär wird. Und dabei erst noch sein Liebesglück findet. Eine Geschichte mit Happy-End – ein bisschen wie in Hollywood.

Und wo bleiben die Jungen? “Der strenge, moralische Zeigefinger Gotthelfs kommt bei den heutigen Jugendlichen nicht besonders gut an”, sagt Regieassistentin Christa Friedli.

An einem Mangel an spannungsgeladenen Szenen kann es jedenfalls nicht liegen. Auf dem “Glunggehof” wird gerauft, geschrien, geschimpft und gesoffen, was das Zeug hält.

Die Bauern, Knechte und Mägde gehen nicht gerade zimperlich miteinander um. Im Gegenteil, sie sagen sich gehörig die Meinung, gehen mit Mistgabeln und Holzscheiten aufeinander los. Ganz zur Freude des Publikums.

Reisecar holt ins 21. Jahrhundert zurück

Dazwischen Volksmusik aus der Konserve. Hundegebell, Muhen aus dem Kuhstall neben der Tribüne. Eine Katze läuft über den Hofplatz. Am Himmel ziehen Wolken vorbei, machen schliesslich den Sternen Platz.

Gerade als sich das frisch vermählte Hochzeitspaar Ueli und Vreneli küsst, fährt der Reisecar vor – und holt die jubelnden Zuschauer wieder ins 21. Jahrhundert zurück.

Bedürfnis nach direkter Naturerfahrung

Für den Erfolg der Volkstheater spiele namentlich die Professionalisierung des Laientheaters eine Rolle, sagt der Theaterwissenschafter Stefan Koslowski.

“Angesichts der Globalisierung besteht zudem ein zunehmendes Bedürfnis nach unvermittelten Begegnungen und gemeinsamem Erleben.” Bei den Freilichtaufführungen spiele auch die direkte Naturerfahrung eine Rolle. “Kollektiv in eine Regenschauer zu kommen, ist ein unvergessliches Erlebnis”, so Koslowski.

Dass zurzeit besonders Dialektstücke so gut ankommen, sieht Koslowski als Zeichen kultureller Selbstbehauptung, als Reaktion auf die “immer durchlässiger werdenden Grenzen”.

Und wie erklärt sich Bauer Reinhard den Publikumsandrang auf seinem Hof? “Dieses Stück hat noch Inhalt und Sinn, es ist nicht so leeres Zeug, wie heute überall gezeigt wird”, sagt Reinhard, der sich inzwischen daran gewöhnt hat, in einer Kulisse zu arbeiten.

swissinfo, Corinne Buchser, Brechershäusern

Jeremias Gotthelf, mit gebürtigem Namen Albert Bitzius, wurde am 4. Oktober 1797 als Pfarrersohn in Murten geboren (gestorben am 22. Oktober 1854). Er wuchs in Utzenstorf an der unteren Emme auf.

Der Name der Hauptfigur aus seinem ersten Werk “Der Bauernspiegel” wurde zu seinem Pseudonym.

Gotthelf, der Pfarrer in Lützelflüh im Emmental war, zeichnet in seinen Geschichten ein genaues Sittengemälde des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert.

Der unbequeme Zeitgenosse setzte sich nicht nur für die allgemeine Schulpflicht ein, sondern kritisierte auch die herrschenden Berner Familien, die sich seiner Ansicht nach zu wenig um die Benachteiligten kümmerten.

Mehrere seiner Werke wurden verfilmt. So etwa Ueli dr Knecht (1954), Ueli dr Pächter (1955) und die Schwarze Spinne (1983).

In den letzten Jahren hat – besonders in der Deutschschweiz – die Kunst des nicht professionellen Freilichttheaters einen Aufschwung erlebt.

Im Rahmen des Pro Helvetia-Programms “echos – Volkskultur für morgen” findet am 18./19. August 2007 im Ballenberg-Freilichtmuseum ein Treffen der Freilichttheater statt.

Begleitet wird die Veranstaltung mit Podien zum Thema Innovation und Tradition im Freilichttheater und einer Preisverleihung.

Ueli dr Chnächt. Nach Jeremias Gotthelf. 6. Juli bis 25. Aug. Theater Glungge in Brechershäusern. Ausverkauft.

Dällebach Kari. Freilichttheater auf dem Gurten. 27. Juni bis 1.Sept. Ausverkauft.

Verdingt. Von E.Y. Meyer. Freilichttheater Moosegg. 2. Juli bis 18. Aug.

Der schwarze Tanner. Landschaftstheater Ballenberg. 11. Juli bis 25. Aug.

Drachenjagd. Stationentheater Burgdorf. 2. bis 25. Aug.

Besuch der alten Dame. Von Friedrich Dürrenmatt. Freilichttheater Aarau. 18. Juli bis 11. Aug.

Der Prozess. Von Christian Laubert. Freilichtbühne Schwarzenburg in der Klosterruine Rüeggisberg. 22. Juni bis 11. Aug.

D’Gotthardbahn. Von Paul Steinmann. Freilichtbühne Göschenen. 6. Juli bis 25. Aug.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft