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Hannah Munz: «Mit jungen Menschen zu leben, hält mich lebendig»

Nahaufnahme von Hannah Munz.
Das Thema Gemeinschaft liegt Hannah Munz am Herzen und hat sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Die 82-jährige Hannah Munz lebt mit einer Freundin der Familie und deren fünf Kindern unter einem Dach und engagiert sich in einem Tanztheater. Die Gemeinschaft, sagt sie, halte einen lebendig.

Es ist eine Hausgemeinschaft voller Fell und Farbe: Im Wohnzimmer steht ein grüner Kachelofen gegenüber einer Sitzecke mit bunten Kissen. Vor einer Truhe liegt eine Katze auf dem Boden, eine weitere streckt sich auf dem Sofa.

„Wir haben fünf Katzen im Haus“, sagt Hannah Munz. „Seit wir vor kurzem hier eingezogen sind, streichen sie umher und suchen sich ihre Lieblingsplätzchen aus.“

Die 82-Jährige lebt in einem umgenutzten Weinbauernhaus in Witikon oberhalb von Zürich. Auch ihre Tochter wohnt zeitweise hier.

„Christine ist Filmemacherin und bereitet sich auf eine Reise nach Brasilien vor. Danach wird sie ein Zimmer in unserer Hausgemeinschaft haben – wenn auch nur für zwischendurch.“

Leben mit der «Wahlfamilie»

Mit „unsere Hausgemeinschaft“ meint Munz Bettina, die mit ihren fünf Kindern und ihrem Labradoodle Toni ein Stockwerk höher lebt.

Munz lernte sie 1981 kennen, als sie im Gemeinschaftszentrum, das Munz leitete, eine Ausbildung absolvierte.

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„Meine Tochter kam manchmal vorbei und die zwei freundeten sich an. Schliesslich zogen sie zusammen in eine WG. Seither ist Bettina ein Teil der Familie.“

„Wir haben schon viel gemeinsam unternommen, sind gemeinsam verreist und haben davon geträumt, alle in einem grossen Haus zu wohnen“, sagt Munz.

Hannah Munz sitzt in ihrem Wohnzimmer auf dem Soga mit einem Laptop auf der Schoss.
Hannah Munz im Wohnzimmer ihrer Hausgemeinschaft in Witikon. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Früh erfuhr sie, dass es keinen strafenden Gott gibt

Hannah Munz kam 1943 in Winterthur zur Welt. Als sie knapp anderthalb Jahre alt war, erkrankte ihre Mutter an Tuberkulose. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt an der Grenze stationiert.

Munz kam für einige Zeit in eine Pflegefamilie. Als die Mutter später erneut erkrankte, konnte Munz glücklicherweise viel Zeit bei ihrem Grossvater verbringen, der in der Nähe wohnte.

Sie wird melancholisch, wenn sie von ihm spricht. Es sei nicht selbstverständlich, dass sie jemanden wie ihn im Leben haben durfte.

Jemanden, der sie viele Bücher und die ganze Zeitung vorlesen und alles er- und hinterfragen liess. Jemanden, der auch zugab, wenn er etwas nicht wusste.

„Er hat mir bereits früh erklärt, dass es keinen strafenden Gott gibt und dass wir Menschen selbst für unser Leben verantwortlich sind. Und er hat mir die Augen für Ungerechtigkeiten geöffnet.“

Auch von ihrer Mutter erfuhr Munz viel Unterstützung. „Ich hatte eine sehr aufgeklärte, emanzipierte Mutter, das hat abgefärbt. Und sie war extrem liebevoll. Dass ich in so einer Familie aufwachsen durfte, war ein Privileg.“

Munz besuchte die Grundschule in Winterthur und später die Kunstgewerbeschule. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann Johann kennen.

Joy, wie sie ihn nannte, machte einen Abschluss im Produktdesign, sie selbst als Gestalterin. Nach drei Jahren heiratete das Paar.

„Ich wollte eigentlich nicht heiraten, aber Joy hatte ein Engagement als Designer im Ausland in Aussicht. Wenn ich ihn begleiten wollte, mussten wir verheiratet sein – so war das damals eben.“

Doch ins Ausland schaffte es das Paar nicht, Munz wurde mit ihrem ersten Kind, der Tochter Christine, schwanger. Zweieinhalb Jahre später folgte Sohn Oliver.

Ein Leben als Mannequin und Mutter

Munz interessierte sich stark für antiautoritäre Erziehung – mehrfach besuchte sie den französischen Pädagogen Arno Stern in Paris und lebte mit ihrer Tochter einen Monat lang im antiautoritären Bildungsprojekt SummerhillExterner Link in England.

Obwohl sie in ihrer Rolle als Mutter aufging, bliebt sie berufstätig und für sich selbst verantwortlich, wie es ihre Mutter und ihr Grossvater sie gelehrt hatten.

Hannah Munz sitzt auf einem Festerbank.
“Dass ich in so einer Familie aufwachsen durfte, war ein Privileg,” sagt Munz. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

„Mit 17 war ich an der Zürcher Bahnhofstrasse gegenüber der frisch erbauten Modissa als Mannequin rekrutiert worden“, erzählt Munz.

Bis 36 modelte sie für Kleidermarken auf dem Laufsteg und reiste mit den Einkäufern grosser Schweizer Modehäuser durch Europa. „Doch das war für mich vor allem ein Job, den ich des Geldes wegen ausübte. Mein Herz schlug immer für das Gestalten.“

Munz machte eine Zusatzausbildung als Malatelierleiterin und baute den Kunsthandwerksmarkt am Zürcher Rosenhof mit auf. Sie malte, nähte, stellte Dinge her.

Als sie nach der Geburt der Tochter feststellte, dass ihr viele Babykleider nicht gefielen, entwarf sie eigene Schnittmuster – daraus entstand eine Kollektion, die im Frauenheft Femina veröffentlicht wurde. In der Migros-Clubschule in Frauenfeld gab Munz zudem Werkkurse.

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Als die wichtigsten Jahre ihrer Erwerbstätigkeit bezeichnet sie aber Zeit, als sie das Gemeinschaftszentrum Grünau in Zürich leitete.

Es war die Zeit, als zum ersten Mal eine breitere Gesellschaf über Fragen der Stadt- und Quartierentwicklng diskutierte. „Wir setzten uns damit auseinander, was ein Quartier braucht, damit es den Menschen gut geht, wie man den Bedürfnissen von Kindern, Familien und älteren Personen Rechnung trägt.“

Munz blieb bis zur Pensionierung in dieser Position – 26 Jahre lang.

Vom Leben als Paar zur Hausgemeinschaft

1984 wurde bei Joy Parkinson diagnostiziert. Für Munz ein Schock: „Aber er sagte, ‚Schatz, wir schaffen das‘, und ich glaubte ihm.“ Fast zehn Jahre lang machte sich die Krankheit nicht bemerkbar.

Später musste er Medikamente nehmen. „Er hat sich stets zu helfen gewusst“, sagt Munz. „Wenn etwas nicht funktioniert hat, baute sich Joy ein Hilfsmittel. Wenn er etwas nicht mehr machen konnte, suchte er sich etwas Neues.“

Durch die Krankheit merkte das Paar, wie wichtig Gemeinschaft ist, und welches Glück sie hatten. „Ich habe es einmal ausgerechnet: Wir hatten rund 30 Personen in unserem, die sich alle gekümmert haben.“

Die Pfadfinder-Freunde holten Johann Munz alle paar Monate für Ausflüge ab. Zum Töff-Fahren, zum Wandern.

Das Umfeld habe sie stark entlastet, sagt Munz. „Es gibt dieses Sprichwort, wonach es ein Dorf brauche, um ein Kind grosszuziehen. Ich würde sagen: Es braucht ebenfalls ein Dorf, um einen Menschen am Lebensabend zu begleiten.“

Johann Munz verstarb 2013 an den Folgen seiner Krankheit. Die letzten 30 Jahre hatte das Paar in einem Haus in Bäretswil gelebt. „Nach seinem Tod wusste ich: Ich will zurück nach Zürich. Ich bin ein Stadtkind.“

Munz wohnte bereits in Zürich, als eines Tages Bettina anrief. „Sie sagte, dass sie ein Haus gefunden habe, in dem wir alle wohnen könnten.“ Sieben Jahre später zog die Hausgemeinschaft weiter in das ehemalige Weinbauernhaus in Witikon.

Immer wieder hat Munz in den letzten Jahren mit unterschiedlichen Menschen gewohnt, mit ihrer Pflegetochter Sia etwa oder mit zwei Schwestern aus der Ukraine, die sie mit drei Kindern bei sich aufgenommen hatte. „Das war für Bettina und mich selbstverständlich“, sagt Munz, für die es wenig Wichtigeres gibt als die Gemeinschaft.

Das Glück der Gemeinschaft

Sie selbst findet diese seit 2019 auch im Tanztheater „Dritter Frühling“. „Bettina kam eines Tages mit einem Flyer an und sagte, ich solle mir das ansehen“, erinnert sich Munz.

Es ist ein Tanz- und Theaterprojekt für Menschen über 60. Anfangs sei sie skeptisch gewesen – bis sie auf der Website des Projekts das Porträt einer Tänzerin las.

Eine Gruppe älterer Menschen, die an einem Performance-Kurs teilnehmen und verschiedene Posen und Bewegungen vorführen.
Die Tanz- und Theatergruppe «Dritter Frühling» beim Üben einer neuen Performance. Munz ist links im Bild zu sehen. zVg

«Die Frau sagte, dass das Einzige, was sie in ihrem Leben bedauere, der Fakt sei, dass sie 80 werden musste, bis sie auf die Gruppe stiess. „Das hat mein Interesse geweckt!“

Munz besuchte einem Workshop und wusste schnell, dass sie hier richtig ist.

Im Tanzprojekt lernte sie auch Ljubo kennen. „Meine jetzige Liebe.“ Seit einigen Jahren sind sie ein Paar. Ob das auch bedeutet, dass sie zusammenziehen werden?

„Nein“, sagt Munz und lacht. „Ljubo ist mein Ruhepol und wenn es mir hier zu turbulent wird, kann ich mich bei ihm zurückziehen, aber wegziehen, das möchte ich nicht.“

Die Hausgemeinschaft sei genau das, was sie sich für ihr Alter gewünscht habe. „Mit Menschen zusammenzuwohnen, die jung sind, die andere Ideen haben, die Sachen anders angehen als du – das hält mich lebendig.“

Editiert von Marc Leutenegger

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