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Ja zur Sterbehilfe, Nein zu Missbrauch

Auch aus dem Ausland kommen Leute in die Schweiz, um hier mit Hilfe zu sterben. Keystone

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten kennt die Schweiz eine sehr liberale Sterbehilfe-Praxis. Doch verschiedene Seiten fordern klarere Regeln.

In einer parlamentarischen Motion wird eine Aufsichtspflicht des Bundes über Sterbehilfe-Organisationen verlangt. Diese Forderung erhebt auch die Nationale Ethikkommission für Humanmedizin.

In der Schweiz ist die Sterbehilfe strafbar, wenn sie aus eigennützigen Beweggründen erfolgt. So steht es im Artikel 115 des Strafgesetzbuches.

Dies bedeutet umgekehrt Straffreiheit, wenn die Hilfe zum Freitod nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt.

Diese Regelung hat dazu geführt, dass in der Schweiz eine recht liberale Praxis im Bereich der Sterbehilfe existiert. Sterbehilfe-Organisationen wie Dignitas oder Exit sind entstanden. Sie bieten Menschen Hilfe an, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen.

Da in den meisten europäischen Ländern die Suizidhilfe als Verbrechen geahndet wird, kommen immer mehr Personen in die Schweiz, um sich in den Tod begleiten zu lassen. Mehr als 100 Personen im Jahr. In der politischen Debatte spricht man gar von einem “Sterbetourismus”.

Beispielsweise Noël Martin. Der britische Staatsbürger wurde Opfer eines Angriffs von zwei Neonazis in Deutschland. Seit 1996 ist er querschnittgelähmt. Kürzlich hat der Mann angekündigt, sich in die Schweiz begeben zu wollen, um mit Hilfe von Dignitas aus dem Leben zu scheiden.

Motion gegen “Missbräuche”

Der so genannte “Sterbetourismus” ist denn auch Gegenstand einer Motion des christlichdemokratischen Ständerats Hansruedi Stadler. Der Vorstoss wird in der laufenden Session im Ständerat, der Kleinen Kammer, behandelt.

Die Motion wurde von 30 Ständeräten aller vier Regierungsparteien unterzeichnet. Verlangt wird eine Aufsichtspflicht des Bundes über Sterbehilfe-Organisationen.

Es bestehe eine Schutzpflicht des Staates gegenüber den in der Regel schwer kranken und daher besonders verletzlichen Menschen mit Suizidwünschen, hiess es.

“Die Finanzen und die mangelnde Transparenz gewisser Organisationen geben immer wieder zu Diskussionen Anlass”, schreibt Stadler. Um seinem Anliegen mehr Gewicht zu geben, erinnert er an einen analogen Vorstoss der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin (NEK).

Sorgfaltskriterien

Diese Kommission hat im vergangenen Oktober einen Kriterien-Katalog vorgestellt, der ihrer Meinung nach in ein Gesetz über Sterbehilfe-Organisationen eingebaut werden müsste. Gefordert wird ein persönliches, mehrmaliges Gespräch sowie eine Zweitmeinung.

Zudem muss der Freitodwunsch laut NEK aus einem schweren, krankheitsbedingten Leiden entstanden sein. Der Wunsch darf seinen Ursprung nicht in einer vorübergehenden Krise haben oder Symptom einer psychischen Krankheit sein. Ebenso wenig darf äusserer Druck für den Sterbewunsch verantwortlich sein.

Regierung lehnt Gesetz ab

Die Schweizer Regierung hat schon wiederholt klar gemacht, dass sie kein Gesetz zur Sterbehilfe will und auch die Aufsichtspflicht des Bundes ablehnt. Justizminister Christoph Blocher hat diese Position vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung erneuert.

“Mögliche Missbräuche im Rahmen der Sterbehilfe sind durch eine konsequente Anwendung des Straf- und Gesundheitsrechts zu unterbinden, was auch möglich ist”, so Blocher. Für die Kontrolle seien die Kantone und Gemeinden verantwortlich.

Blocher bezeichnet das geforderte Aufsichtsgesetz sogar als schädlich: “Es wäre ausserordentlich gefährlich, wenn der Staat durch ein Aufsichtsgesetz gleichsam nach aussen diese Organisationen und deren Tätigkeit legitimieren oder ihnen gar ein Gütesiegel verleihen würde.”

Freiheit zum Freitod, kein Recht auf Beihilfe

Alberto Bondolfi, Ethikprofessor an der Universität Lausanne und Mitglied der nationalen Ethikkommission, versteht die Argumente der Regierung: “Denn letztlich wollen wir einen Religionskrieg zu diesem Thema vermeiden.”

Obwohl er für die liberale Praxis in der Schweiz Verständnis zeigt, gibt es seiner Meinung nach eine Reihe ungelöster Probleme.

Bondolfi legt namentlich Wert auf folgende Feststellung: “Der Staat muss eine Freiheit respektieren, wenn ich mein Leben beenden will, aber das beinhalt keinen Anspruch auf die Hilfe von Dritten für meinen Freitod.” Kurz: Ein Recht auf Suizidhilfe existiert nicht.

Die Schweizer Gesetzgebung ist laut Bondolfi zudem “sehr allgemein” gehalten: “Der Artikel 115 des Strafgesetzbuches bezieht sich nicht auf schwerkranke Menschen, sondern auf alle Personen. Wenn ich einem Freund eine Pistole gebe, und sich dieser wegen Liebeskummer das Leben nehmen will, ist das nicht strafbar, auch wenn mein Freund vollkommen gesund ist.”

Laut Bondolfi sollte man über diesen Aspekt nachdenken, zumal ein möglicher Anstieg des “Sterbetourismus” die Schweiz international in ein schiefes Licht rücken könnte. Auch die Haltung der Bevölkerung könnte zu weniger liberalen Positionen tendieren.

swissinfo, Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Unter den europäischen Staaten kennt die Schweiz bei der Sterbehilfe eine sehr liberale Praxis. In den Niederlanden und Belgien ist die aktive Euthanasie (Eingreifen einer dritten Person) unter bestimmten Bedingungen erlaubt.

In der Schweiz wird die aktive Euthanasie einer Tötung gleichgesetzt und ist somit strafbar.

Die passive Euthanasie (Einstellen einer Therapie; Abstellen von Maschinen) ist nicht strafbar.

Im Jahr 2005 haben sich zirka 350 Personen an Sterbehilfe-Organisationen gewandt.
Die nationale Ethikkommission schätzt, dass jedes Jahr rund 100 Personen aus dem Ausland in die Schweiz kommen, um ihr Leben zu beenden.
In rund einem Fünftel aller Suizidfälle in der Schweiz wird Beihilfe von Dritten geleistet.

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