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Stunden unter Schnee überleben

Überleben dank richtiger Betreuung. Keystone

Unberührte Schneeflächen mit Skis, Snowboard oder Schneeschuhen durchqueren - ein Wintertraum! Von einer Lawine mitgerissen und verschüttet werden ist die Kehrseite der Medaille.

Heute können Lawinen-Verschüttete gerettet werden, die früher keine Überlebens-Chance hatten.

In der Silvesternacht wurde ein Lawinen-Verschütteter lebend geborgen. Dies grenzt an ein Wunder, war er doch fast vier Stunden unter den Schneemassen begraben. An den Rettungs-Massnahmen beteiligten sich insgesamt 13 Retter und vier Hunde der Sektion Lauterbrunnen des Schweizer Alpen-Club (SAC).

“Der Mann hatte grosses Glück”, berichtet Eveline Winterberger, Ärztin von der Schweizerischen Rettungsflugwacht (Rega) Gsteigwiler im Berner Oberland gegenüber swissinfo. “Wenn jemand so lange verschüttet ist, muss er die Möglichkeit haben zu atmen. Sonst würde er vor dem Ende der Ausgrabung ersticken und könnte nicht mehr wiederbelebt werden”, sagt die Rega-Ärztin.

Überlebenschancen

Studien zeigen, dass rund eine halbe Stunde nach einem Lawinen-Niedergang zwei Drittel der Verschütteten tot sind. Diese Menschen sind erstickt. Schnee verstopft die Atemwege und verunmöglicht das Atmen.

“Wenn man aber eine halbe Stunde überlebt hat,” sagt Eveline Winterberger, “kann man meist noch eine gewisse Zeit durchhalten.” Das Überleben ist möglich, wenn eine genügend grosse Atemhöhle vorhanden ist. “Die Verschütteten können atmen, kühlen aber immer mehr ab und werden irgendwann bewusstlos.”

Als man den Verschütteten auf dem Jungfraujoch nach beinahe vier Stunden ausgegraben hatte, war seine Körpertemperatur auf unter 29 Grad gefallen. Er war bewusstlos und hatte Herzrhythmus-Störungen.

Medizinische Fortschritte

Vor einigen Jahren noch galt die Devise: Den Körper des Patienten von aussen her aufwärmen. Die Erfolge waren jedoch bescheiden, denn dabei wurde der Kreislauf des Patienten angekurbelt und das kalte Blut gelangte von den Extremitäten ins Herz. Der “Kern” des Patienten war somit noch kälter geworden. Die wahrscheinliche Folge: Herzstillstand und Tod.

Neue medizinische Erkenntnisse können heute jedoch die Überlebens-Wahrscheinlichkeit enorm steigern. Der Notarzt hat den nach vier Stunden Geretteten mit warmem Sauerstoff aufgewärmt. Die Wärme gelangte also via Lunge in den Thorax, den Brustkorb. Wärmefolien verhinderten das weitere Auskühlen. Zudem wurde mit warmen Beuteln an der Leiste und auf dem Thorax von aussen Wärme zugeführt.

Diese Methode hatte Erfolg. Als die Körpertemperatur des Patienten 31 Grad betrug, erlangte er wieder das Bewusstsein. Bei der Ankunft im Krankenhaus betrug seine Körpertemperatur bereits wieder 35 Grad.

Überlebenskampf

Nicht immer verlaufen Rettungen so glimpflich. Eveline Winterberger: “Bei einem Patienten mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand liegt die Körpertemperatur meist unter 28 Grad. In einem solchen Fall muss ich ihn reanimieren. Ich werde ihn in ein Zentrumsspital fliegen, das über eine Herz-Lungenmaschine verfügt. Damit wird der Patient schonend aufgewärmt. Erst dann sieht man, ob er überlebt hat oder tot ist.”

Ist ein Patient jedoch ansprechbar und zittert vor Kälte, ist er nur leicht unterkühlt. “Wenn er klar Auskunft geben kann, sollte man ihm warmen Tee geben und ihn trotzdem an einen Ort schicken, wo er medizinisch überwacht werden kann”, sagt die Rega-Ärztin.

Wenn der Patient bei Bewusstsein ist, jedoch nicht mehr zittert, ist die Situation ernster. Seine Körpertemperatur beträgt dann wahrscheinlich weniger als 32 Grad. Er muss dann äusserst schonend geborgen werden, denn er darf nicht weiter auskühlen. Er sollte sich auch nicht zu viel bewegen, sollte also beispielsweise nicht selbstständig zum Helikopter gehen.

Eveline Winterberger: “Der Patient wird dann in ein Spital mit einer Intensivstation eingewiesen. Ich befürchte in solchen Situationen immer, dass er Herzrhythmus-Störungen bekommen könnte. Je nachdem muss er dann auch reanimiert werden.”

Entscheid über Leben und Tod

Im besten Fall kann ein Rettungsarzt versuchen, eine aus einer Lawine geborgene bewusstlose Person im Spital an der Herz-Lungen-Maschine langsam wieder “aufzutauen”.

Werden jedoch mehrere Verschüttete geborgen und ist es nicht möglich, zum Beispiel wegen schlechtem Wetter die Verletzten mit mehreren Helikopter-Flügen zu evakuieren, liegt es am Rettungsarzt zu entscheiden, ob ein Patient erstickt und damit tot ist oder ob er mit Aufwärmen und Reanimation und dem Flug in ein Spital noch eine Überlebens-Chance hat.

Eveline Winterberger: “Das sind schwierige Entscheidungen, die auf einem Lawinenfeld zu treffen sind. Man hat zwar seine Schemata im Kopf und weiss, ja, der hatte eine Atemhöhle und damit eine Chance und jener Patient hatte keine Atemhöhle und war mehr als eine Stunde unter dem Schnee begraben. Da muss ich dann sagen: ‘O.K., wir kümmern uns um den Patienten, der die grösste Überlebens-Chance hat’.”

Schwierige Verarbeitung

Auf die Frage, wie man solche Entscheidungen und Erlebnisse verarbeitet, antwortet Rega-Ärztin Winterberger: “Man muss versuchen, Distanz zu haben, da man sonst nicht mehr helfen kann. Und trotzdem muss man menschlich bleiben. Es ist irgendwie wie eine Gratwanderung, bei der die Gefahr besteht, dass man sich zu fest in einen Patienten hineinfühlt oder zu wenig.”

Schwierige Fälle werden im Rega-Team besprochen und sollten damit verarbeitet werden können. In gravierenden Fällen kann das Team von der Rega auch einen Psychologen anfordern.

swissinfo, Etienne Strebel

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