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Der Kosovo in der Schweiz, die Schweiz im Kosovo

Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey: “Das Regieren des Kosovos heute würde mir Schmerzen bereiten”

Micheline Calmy-Rey spricht in ein Mikrofon.
Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey bei einer Rede 2021 in Lausanne. Sie sprach über ihr Lebensthema: aktive Neutralität. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Von 2003 bis 2011 prägte SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey eine aktive Schweizer Aussenpolitik. Im Interview mit SWI swissinfo.ch erinnert sie sich an die Entstehungszeit des jüngsten Staats Europas.

SWI swissinfo.ch: Frau Calmy-Rey, Sie sind kosovarische Ehrenbürgerin. Wann waren Sie das letzte Mal im Land?

Micheline Calmy-Rey: Ende letzten November. Ich war mit einer Stiftung, die ich präsidiere, dort, um ein geeignetes Grundstück für den Bau eines Altersheims zu finden.

Hinter dem Projekt steht ein erfolgreicher Westschweizer Unternehmer, der selbst zur Diaspora gehört, die das Altersheim-Projekt finanziert. Daran sieht man auch: Die Kosovaren in der Schweiz sind sehr gut integriert, das ist eine Erfolgsgeschichte.

Fast 300’000 Menschen geben laut dem Bundesamt für Statistik an, dass Albanisch zu Hause ihre Erstsprache ist. Die kosovarische Diaspora in der Schweiz ist sehr gross. Ist dieses geplante Altersheim für ältere Kosovo-Schweizer:innen vorgesehen, die ihre Pensionierung im Land verbringen wollen?

Es ist ein Heim für die kosovarische Bevölkerung, nicht für Rückkehrer:innen aus der Schweiz. Das Projekt will das Konzept von Altersheimen im Kosovo verbreiten, denn es ist ein armes Land ohne flächendeckende Altersheime.

Es ist ein Heim für Kosovo-Serb:innen und -Albaner:innen, die Bevölkerung in dieser Region ist gemischt. Wir haben nun das Grundstück gefunden, jetzt muss der Unternehmer die Finanzierung aufgleisen. Bei meinem Besuch wurde ich auch von der Präsidentin Vjosa Osmani, dem Premier und weiteren Regierungsmitgliedern empfangen.

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Sie scheinen viele Verbindungen in den Kosovo zu haben. Sind Sie oft da?

Nicht sehr oft, nein. Davor habe ich Premierminister Albin Kurti zuletzt in Zürich getroffen. Als er dort war, um ein Memorandum of Understanding mit meiner Partei, der sozialdemokratischen SP, zu unterzeichnen.

Bei meinem Besuch letztes Jahr konnte ich mit der kosovarischen Regierung auch über die wichtigsten Herausforderungen des Kosovo sprechen. An erster Stelle steht für das Land natürlich, von mehr Ländern anerkannt zu werden. Aktuell anerkennen rund hundert LänderExterner Link den Kosovo.

Albin Kurti vor der Kosovo-Flagge
Albin Kurti ist seit 2021 Premierminister des Kosovo. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved.

Was haben Sie für einen Eindruck von Regierungschef Albin Kurti? Seine Bewegung Vetëvendosje stellt sich ja als Gegenprogramm zu den davor prägenden politischen Parteien im Kosovo dar.

Ich habe gut mit allen Gesprächspartnern von Seiten des Kosovo zusammengearbeitet, ob das Albin Kurti ist oder Hashim Thaçi oder jemand anderes war.

Der frühere Regierungschef Hashim Taçi steht heute in Den Haag vor Gericht wegen möglichen Menschenrechtsverbrechen. Wie haben Sie als Aussenministerin Thaçi erlebt?
Ich erlaube mir keine wertenden Urteile zu meinen politischen Gegenübern. Er war der Premierminister des Kosovo und hatte ein grosses Wissen über die Schweiz, sein Schweizerdeutsch ist auch sehr gut.

Die politische Person, die mich im Kosovo am meisten beeindruckt hat, war der pazifistische Präsident Ibrahim Rugova, der Vater der Unabhängigkeit. Unter dem Dach der Vereinten Nationen habe ich es in den Nullerjahren geschätzt, mit den Gesprächspartnern von Seiten Kosovos zusammenzuarbeiten. Es hat gut funktioniert.

Ibrahim Rugova und Micheline Calmy-Rey bei einer gemeinsamen Pressekonferenz
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und der kosovarische Präsident Ibrahim Rugova bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina am 1. August 2005. Keystone / Visar Kryeziu

Wo sehen Sie die Herausforderungen des Kosovo heute, im neuen geopolitischen Kontext?
Ich würde sagen, dass der Krieg in der Ukraine die Situation verändert hat. Die Länder im Westbalkan sind strategisch wichtiger geworden. Und diese Länder sind junge Staaten, die Beziehung zu Russland ist asymmetrisch und nicht immer einfach.

In diesem Kontext braucht der Kosovo die Anerkennung von weiteren Staaten, um Zugang zu internationalen Organisationen zu erhalten. Er wäre gerne Mitglied der Europäischen Union und dem Verteidigungsbündnis NATO.

Bereits 2005 hat sich die Schweizer Regierung für eine formelle Unabhängigkeit des Kosovo ausgesprochen.

Ja, wir haben sehr früh, wenige Jahre nach dem Krieg, begonnen, den Status des Kosovo zu thematisieren. Die Schweiz war das erste Land, das die Unabhängigkeit des Kosovo zum Thema gemacht hat.

Die Situation war vertrackt: Die internationale Position war damals, der Kosovo müsse im Hinblick auf Menschenrechte und Regierungsführung erst internationale Standards erfüllen.

Für die kosovarische Seite war das schwierig, damals gab es weder Regierung noch einen Staat.

Wir haben uns im Namen der Schweiz für einen neuen Ansatz ausgesprochen: Erst klärt man den Status und sobald eine kosovarische Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat, können wir sie an ihrer Verantwortung im Hinblick auf Menschenrechte messen.

Das war die Schweizer Erklärung im UNO-Sicherheitsrat, damit begannen die Diskussionen über die kosovarische Unabhängigkeit in den Reihen der Vereinten Nationen.

Die Schweiz spielte also eine wichtige Rolle, sie hatte auch ein Interesse an einem unabhängigen Kosovo.

Was war dieses Interesse der Schweiz?

Die grosse kosovarische Gemeinschaft im Land. Nach Deutschland lebt in der Schweiz die grösste Diaspora-Gruppe des Kosovo – und im Verhältnis zur Bevölkerung sind es in der Schweiz natürlich ein Vielfaches mehr Menschen. Für uns war es von Interesse, dass die Spannungen im Westbalkan abnehmen.

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Hat es Sie dann trotzdem überrascht, als der Kosovo im Winter 2008 seine Unabhängigkeit erklärt hat?

Am 17. Februar 2008 war ich bei der albanischen katholischen Mission in Wil eingeladen. Ich sollte an der Zeremonie sprechen. In Bern nahm ich den Zug, da war das noch kein Thema, aber am Bahnhof Wil kam mir der Priester weinend entgegen.

Er sagte: “Madame, es ist ein Wunder, was wir erleben dürfen.” Die Unabhängigkeit des Kosovo sei verkündet worden. Er war von Emotionen übermannt und die Messe war dann auch wirklich bewegend. Alle Kosovar:innen von Wil waren da – und sehr glücklich.

Hinterher war es schwierig, den Bundesrat zu überzeugen, dass ich meinen Besuch bei der albanischen Mission nicht extra auf den Unabhängigkeitstag arrangiert habe. Aber ich habe die Geschichte nicht vorhersehen können.

Zwischen der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und der Anerkennung durch die Schweiz lagen zehn Tage. Was waren die politischen Debatten zwischen diesem 17. Februar und der formellen Anerkennung durch die Schweiz?

Es brauchte die Zustimmung der aussenpolitischen Kommission, natürlich auch jene des Bundesrats. Am Ende anerkannten wir die Unabhängigkeit des Kosovo mehr oder weniger gleichzeitig wie die Europäische Union.

Weil nicht alle Länder der Vereinten Nationen bereit waren, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen, musste das Land eine einseitige Unabhängigkeitserklärung machen. Obwohl viele das meinen, war die Schweiz nicht das erste Land, dass die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt hat.

Aber wir waren das erste Land, das wollte, dass darüber diskutiert wird. Und dann haben wir mit der Schweizer Diplomatie dazu beigetragen, dass dies möglich geworden ist. Ich stelle fest, dass es eine starke Verbindung zwischen dem Kosovo und der Schweiz gibt. Manche reden vom 27. Kanton der Schweiz.

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Wenn der Kosovo wirklich der 27. Kanton wäre, müsste die Schweiz doch viel mehr tun im Bereich der Diplomatie, aber vielleicht auch im Bezug auf Stipendien und Bildungsaustausch für junge Kosovar:innen. Macht die Schweiz heute noch genug, um den Verbindungen der beiden Länder gerecht zu werden?

Vor allem im Sommer sieht man im Kosovo überall Schweizer Autokennzeichen – und die kosovarische Diaspora tut viel. Aber für die heutige Schweizer Regierung kann ich nicht sprechen. Ich weiss, man ist im Kosovo mit Hilfe präsent – das Ausmass und die Bereiche kenne ich nicht.

Aber ich glaube, der Kosovo ist auf einem guten Weg. Sein grösstes Hindernis sind die Spannungen mit Serbien. Wäre ich heute Premierministerin des Kosovo, hätte ich beim Regieren dieses Landes viele Schmerzen.

Im Norden des Landes, wo die Bevölkerungsmehrheit serbisch ist, gibt es ein paralleles System für das Sozialwesen. Sie haben Schulbücher, die von Serbien zur Verfügung gestellt werden. Manche Gemeinden verweigern sich der Autorität von Prishtina.

Es ist schwierig, dieses Land zu regieren. Die EU übernimmt die Mediation zwischen Serbien und Kosovo, aber die Verantwortlichen wie der EU-Sonderbeauftragte Miroslav Lajčák und der Aussenpolitik-Verantwortliche Josep Borrell kommen aus Ländern, welche die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen.

Lajčák kommt aus der Slowakei und Borell aus Spanien. Fünf EU-Mitglieder anerkennen die Unabhängigkeit des Kosovo bis heute nicht. Neben den genannten sind dies Rumänien, Griechenland und die Republik Zypern. 
Die EU-Mediatoren führen eine Politik, die zum Teil Serbien schützt oder rettet. Man fordert von Albin Kurti, den serbischen Gemeinden mehr Autonomie einzuräumen.

Das Gegengeschäft dafür müsste aber auf alle Fälle die Anerkennung des Kosovo durch Serbien sein. Doch der serbische Präsident sagt, er werde das nie tun. Da liegt das Problem des Kosovo.

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Müsste sich die Schweiz Ihrer Ansicht nach also unabhängig von der Europäischen Union zwischen Serbien und dem Kosovo positionieren?
Nein, die Schweiz sollte nicht versuchen, den Platz der EU einzunehmen. Aber sie könnte vielleicht mit der Regierung des Kosovo in den Dialog über Regierungsmodelle treten, die Vielfalt zulassen.

Im Kosovo hat man Angst, ein zweites Bosnien-Herzegowina zu werden, aber die Schweiz könnte Vorbild für eine Alternative sein.

In der Schweiz haben wir eine sehr besondere Regierungsführung, die verschiedene Minderheiten – sprachlich und kulturell – zusammenbringt. Die Schweiz könnte ein Modell sein für ein System, das die Koexistenz der serbischen und albanischen Bevölkerungen im Kosovo ermöglicht.

Der kroatische Präsident Zoran Milanovic, Micheline Calmy-Rey und der heutige Aussenminister Ignazio Cassis
2022 moderierte Micheline Calmy-Rey die Diskussion über europäische Sicherheitsfragen kurz nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine zwischen dem kroatischen Präsidenten Zoran Milanović und dem heutigen Schweizer Bundesrat und Aussenminister Ignazio Cassis. © Keystone / Martial Trezzini

Sie vertraten als Aussenministerin eine proaktive Aussenpolitik. Stimmt der Eindruck, dass von Ihrer Idee einer aktiven Neutralität in der heutigen Aussenpolitik wenig geblieben ist?

Weiterhin arbeiten Diplomat:innen, die schon mit mir zusammenarbeiteten, für das Aussendepartement. Aber wie gesagt, ich kann nicht für die aktuelle Regierung sprechen, auch nicht über ihre Politik.

Um eine Wirkung auf der internationalen Bühne zu haben, reicht es für ein Land wie die Schweiz nicht, bloss zu deklarieren, dass man mit seinen Guten Diensten zur Verfügung stehe.

Die Guten Dienste verlangen, dass man selbst über mögliche Dialoge nachdenkt, die Situation analysiert – auch im Hinblick auf eigene Interessen der Schweiz. Wenn man etwas bewirken will, reicht es nicht zu erklären, dass man zur Verfügung steht.

Editiert von David Eugster.

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