Neutralität: Was macht die Schweiz im Kriegsfall?

Die Schweiz zeigt sich offener für eine engere Anbindung ihrer Armee an den Westen. Darf sie das? Das ist der Rahmen, in dem sich die neutrale Schweiz militärisch bewegt.
Die Neutralität ist ein integraler Bestandteil der schweizerischen Identität. Sie wurde 1815 von den Grossmächten auf dem Wiener Kongress anerkannt. Für die Autoren der Schweizer Verfassung von 1848 war die Neutralität ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit.
1907 wurden in den Haager Konventionen zum ersten Mal die Rechte und Pflichten neutraler Staaten schriftlich festgehalten. Im Gegenzug für die Unverletzlichkeit ihres Territoriums müssen sich neutrale Staaten unter anderem aus Kriegen heraushalten, die Gleichbehandlung der Kriegsparteien garantieren und ihnen weder Waffen noch Truppen zur Verfügung stellen.

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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?
Die Schweizer Armee
Auch neutrale Staaten sind zur Selbstverteidigung verpflichtet. Deshalb hat sich die Schweiz stets bemüht, ihre Streitkräfte auf einem respektablen Niveau zu halten.
Der Bund hat eine Milizarmee, in der es nur wenige Berufssoldaten und -soldatinnen gibt. Die Verfassung verpflichtet Männer zum Militärdienst, für Frauen ist dieser freiwillig – bis 2030 soll ihr Anteil auf zehn Prozent erhöht werden.
Nach der Rekrutenschule müssen die sogenannten AdAs (Angehörige der Armee) noch einige Jahre lang mehrwöchige «Wiederholungskurse» absolvieren. Es ist daher nicht ungewöhnlich, in den Städten oder in Zügen uniformierte Soldaten und Soldatinnen mit ihren Waffen zu sehen. Die Soldaten dürfen ihre Gewehre zu Hause behalten, was regelmässig zu Kontroversen führt, da immer wieder Morde und Selbstmorde mit Dienstwaffen verübt werden.
Männer, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern, können sich für den Zivildienst entscheiden. Sie müssen dann über einen Zeitraum, der eineinhalb Mal so lang ist wie der Militärdienst, gemeinnützige Arbeit verrichten. Wer bei der Rekrutierung als untauglich eingestuft wird, darf keinen Dienst leisten und muss eine Wehrpflichtersatzabgabe bezahlen.

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Kann man den Militärdienst in der Schweiz verweigern?
Internationale Verpflichtungen
Die Neutralität der Schweiz hindert sie nicht daran, sich in zahlreichen internationalen Organisationen zu engagieren. Hingegen darf sie dem Militärbündnis NATO nicht beitreten. Sie arbeitet aber im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden mit der NATO zusammen.
1920 trat die Eidgenossenschaft dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen (UNO), bei und konnte Genf als Sitz der Institution durchsetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte sich die Schweiz eine globale Mission aufbauen, indem sie sich auf ihr diplomatisches und humanitäres Fachwissen stützte.

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Das internationale Genf in Zahlen
Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg verstärkten jedoch die Idee, dass die Schweiz, um völlig neutral zu bleiben, keinem internationalen Bündnis beitreten sollte. Die Eidgenossenschaft wird den Vereinten Nationen deshalb erst 2002 beitreten, mehr als 50 Jahre nach der Gründung der Organisation.
Seitdem hat sie jedoch ihre Vertretung in internationalen Gremien kontinuierlich ausgebaut. Sie ist unter anderem Mitglied der Unesco, der OECD, des Europarats und der OSZE. Genf ist mittlerweile Sitz einer Vielzahl von internationalen Organisationen.
Die Förderung von Frieden und Menschenrechten blieb eine Priorität der Schweizer Aussenpolitik. Die Eidgenossenschaft nimmt an zivilen und militärischen friedenserhaltenden Missionen teil, die von internationalen Organisationen durchgeführt werden. Sie entsendet auch Experten in verschiedene Länder, um Friedensprozesse zu begleiten oder die Durchführung von Wahlen zu überwachen. Die Schweiz bietet auch ihre Guten Dienste an, unterstützt Konfliktparteien bei der Suche nach Lösungen und übernimmt Vermittlungsmandate.

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Die Schweiz und ihre Schutzmachtmandate: ein Kanal zwischen zerstrittenen Staaten
Die Grenzen der Neutralität
Von Anfang an war die Neutralität der Schweiz Gegenstand zahlreicher Diskussionen und wurde immer wieder in Frage gestellt. Während des Zweiten Weltkriegs verstiess die Eidgenossenschaft mehrfach gegen diesen Grundsatz, insbesondere durch die Lieferung von Kriegsmaterial und Waren an die kriegführenden Parteien. Sie wurde auch heftig kritisiert, weil sie sich weigerte, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, und weil sie Geld von Holocaust-Opfern bis Ende der 1990er Jahre in ihren Banken aufbewahrte.

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Wie der Holocaust-Bankendeal mit der Schweiz zustande kam
Ausserdem produziert und exportiert die Schweiz Waffen, was viele als unvereinbar mit ihrer Neutralität und ihrer Bereitschaft, den Frieden zu fördern, ansehen. Andererseits wird argumentiert, die bewaffnete Neutralität der Schweiz müsse in der Lage sein, bei Rüstungsgütern möglichst unabhängig von anderen Staaten zu sein.

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Kriegsmaterialhandel: Die Schweizer Neutralität als Geschäftsmodell
Mit jedem neuen Vorschlag zur Zusammenarbeit oder zum Beitritt zu einer internationalen Organisation wird eine neue Debatte über die Definition und die Rolle der helvetischen Neutralität geführt. Doch in einer globalisierten Welt, in der die Staaten voneinander abhängig sind, scheint dieser Grundsatz heute weniger wichtig und schwieriger abzugrenzen zu sein.
Eine 2024 durchgeführte Umfrage ergab, dass mehr als 91% der Befragten die Neutralität beibehalten wollen und sie als Teil der helvetischen Identität betrachten.

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