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Steuerhinterziehung: Der spektakuläre Fall des Milliardärs Pierre Castel

Eingang zum Genfer Gerichtsgebäude.
Der Fall Castel hat im Genfer Justizpalast für viel Wirbel gesorgt. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Über 400 Millionen Franken: Der Betrag, den die Genfer Steuerbehörden vom französischen Multimilliardär Pierre Castel fordern, hat das Interesse  der internationalen Presse auf sich gezogen und eine lokale Debatte ausgelöst. In den Korridoren der Justiz scheint die Medienaufmerksamkeit Panik auszulösen.

Im letzten Juli gab das zuständige Gericht in Genf bekannt, dass Pierre Castel, Weinhändler und zwölftreichster Mann der Schweiz, 410 Millionen Franken Steuern nachzahlen muss – genug, um das Defizit des Kantons Genf auszugleichen.

Der Fall sorgt für Aufsehen, sowohl wegen der Höhe der geforderten Summe als auch wegen der Fragen, die er bezüglich der Arbeitsweise der Genfer Steuerbehörden aufwirft. Pierre Castel soll es seit 30 Jahren versäumt haben, den Steuerbehörden mitzuteilen, dass er die Castel-Gruppe leitet und über eine Stiftung in Liechtenstein und einen Fonds in Singapur hohe Dividenden erhält. 

Es dauerte lange, bis sich die Steuerbehörde mit der Angelegenheit befasst hat. Der heute 96-jährige Pierre Castel soll sich beim Finanzamt unter seinem zweiten Vornamen Jesus angemeldet haben, wodurch er der Aufmerksamkeit der Ermittler:innen entgangen war und laut dem erstinstanzlichen Gericht der Stadt Genf “beträchtliche Beträge” an Steuern hinterziehen konnte. Seine wahre Identität sei erst durch Presseartikel aufgedeckt worden.

Pierre Castel
Pierre Castel lebt seit 1981 in der Schweiz. wikicommons CC2.0

215 Unternehmen in 40 Ländern

Um das Steuerverfahren gegen den Milliardär in Genf zu verstehen, muss man darauf zurückkommen, wie die Castel-Gruppe strukturiert ist. In einer Untersuchung für die Vereinigung Survie vertritt der Forscher Olivier Blamangin die Ansicht, dass das Unternehmen “ein ausgeklügeltes System von in Steuerparadiesen domizilierten Gesellschaften und Holdings [eingerichtet hat], [das] es […] ermöglicht, die Gewinne in die derzeit attraktivsten Offshore-Plätze zu lenken”.

Pierre Castel hatte die Groupe Castel, die 215 Unternehmen in vierzig Ländern umfasst, mit seinen Geschwistern gegründet. Seit 1981 lebt der französische Milliardär in der Schweiz. Von 1990 bis 2012 wohnte er im Kanton Genf und zog dann mit seiner Frau ins Wallis. Die Familie Castel steht derzeit mit einem geschätzten Vermögen von 13 bis 14 Milliarden Franken auf Platz 12 der Liste der reichsten Schweizer:innen, die von der Zeitschrift Bilan erstellt wurde.

Pierre Castel behauptet, er habe den Willen gehabt, die Gruppe zu veräussern, “damit sie zu einem dauerhaften Unternehmen wird und nicht mehr von [ihm] oder seinen Erben abhängt”. Er gibt an, 1992 auf das gesamte Aktienkapital der Gruppe verzichtet zu haben. Zunächst zugunsten einer Stiftung mit Sitz in Liechtenstein, der SCOMAF. Ab 2009 übertrug die Stiftung in Vaduz das Eigentum an der Dachholding, die das gesamte Aktienkapital der Castel-Gruppe umfasst, Cassiopée Limited, an einen Fonds aus Singapur, den Investment Beverage Business Fund (IBBF). Pierre Castel bestreitet jeden Versuch der Steuerhinterziehung und behauptet, er habe “keinen Fehler begangen, aber wenn ihm dennoch ein Fehler angelastet werden sollte, könnte es sich nur um eine leichte Unvorsichtigkeit handeln”.

Das verworrene Organigramm der Groupe Castel (in Französisch):

Olivier Blamangin/Association Survie

Diese Version überzeugte die Schweizer Steuerbehörde nicht. Sie verdächtigte den Patriarchen, die Kontrolle über die Gruppe behalten zu haben und sich in Wirklichkeit nie des Eigentums an den Vermögenswerten entledigt zu haben, die er angeblich zunächst auf die Stiftung in Liechtenstein und dann auf den Fonds in Singapur übertragen hatte. So soll Pierre Castel nicht angegeben haben, dass er in den fraglichen Jahren sehr hohe Dividenden von diesen beiden Organisationen erhalten hatte.

Vom Bundesgericht desavouiert

Aber handelt es sich hier um einen Einzelfall oder gibt es noch andere Einnahmeausfälle für den Genfer Fiskus? Ist die Höhe der Geldstrafe ausreichend? Die Genfer Steuerbehörde hat erst Ende 2017 ein Verfahren gegen den Milliardär eröffnet, und zwar für die Steuerjahre 2007 bis 2011. Aufgrund der Verjährungsfristen können die vorangehenden Jahre nicht mehr geprüft werden.

Bisher hat Pierre Castel nur der Rückzahlung der Beträge zugestimmt, die er für das Jahr 2009 schuldete. Die restlichen Jahre waren Gegenstand von zwei Verfahren, beim Bundesgericht und bei der Verwaltungskammer des Genfer Gerichtshofs. Letzteres, das sich auf die Jahre 2010 und 2011 bezieht, ist derzeit noch nicht entschieden.

Das Bundesgericht hatte seinerseits entschieden, dass die von der Genfer Steuerbehörde für die Jahre 2007 und 2008 geforderten Steuern – in Höhe von 290 Millionen Euro – begründet waren. Es vertrat die Ansicht, dass man sich kaum vorstellen könne, “aus welchem anderen Grund [als Steuerhinterziehung] ein Steuerpflichtiger dazu veranlasst werden könnte, dem Finanzamt Informationen zu liefern, von denen er weiss, dass sie unrichtig oder unvollständig sind”. 

Die Genfer Justiz ist jedoch der Ansicht, dass “die Höhe der Geldstrafe, die auf drei Viertel des Betrags der hinterzogenen Steuern festgesetzt wurde, gering, um nicht zu sagen zu milde erscheint”.

Der von SWI swissinfo.ch kontaktierte Gewerkschaftsbund Cartel intersyndical de la fonction publique ist der Ansicht, dass “es in Genf Vermögen gibt, die  besteuert werden müssen”, und prangert die Grenzen eines Systems an, “das den grossen Vermögen zu viele Steuergeschenke macht”.

Die für Finanzen zuständige Staatsrätin Nathalie Fontanet verteidigt sich und “betont, dass keine direkte Verbindung zwischen einem Dossier, das Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist, und dem Haushaltsentwurf für das kommende Jahr gemacht werden kann”. Sie erklärt, dass die Steuerverwaltung des Kantons Genf in den letzten zehn Jahren “dank der sorgfältigen Arbeit ihrer Mitarbeiter:innen rund 2,5 Milliarden Franken” eingetrieben habe.

Plötzliche Selbstzensur

In den Korridoren des Genfer Gerichts hatte die mediale Aufmerksamkeit, die dem Fall zuteil wurde, durch einen Schneeballeffekt merkwürdige Folgen.

Das Schweizer Medium Gotham CityExterner Link, das sich auf Gerichtsreportagen aus öffentlichen Quellen spezialisiert hat, hatte die Existenz der vom Milliardär geforderten Summe in einem Urteil entdeckt, das auf der Website der Verwaltungskammer des Gerichtshofs veröffentlicht worden war.

Wie es die Regel für die Veröffentlichung von Rechtsprechung vorschreibt, war in dem vom Gericht online gestellten Text der geforderte Betrag in vollem Umfang angegeben. Am Tag nach dem Erscheinen des Artikels entfernte der Gerichtshof jedoch plötzlich das Urteil von seiner Website, um es zwei Tage später wieder online zu stellen. Diesmal ohne Angabe der Höhe der Steuerforderung.

Die Pressestelle des Gerichts gab auf mehrmalige Nachfrage keine Erklärung für diese späte – und ungewöhnliche – Schwärzung ab, was es erschwert, für die unterschiedliche Behandlung des Milliardärs Pierre Castel Verständnis aufzubringen.

Der Verteidiger Castels, Grégory Clerc, versicherte auf Anfrage, dass von seinem Mandanten weder direkt noch indirekt eine Anfrage an die Instanzen bezüglich der Streichung irgendeines Elements des Urteils gestellt worden sei.

Eine weitere Untersuchung läuft

Die Haupteinnahmequelle des Castel-Imperiums liegt in Afrika. Der Konzern ist dort seit den frühen 1950er-Jahren tätig und hat in mehreren Ländern ein Quasi-Monopol bei der Herstellung von Bier und Softdrinks.

Einem Bericht der NGO The Sentry zufolge soll eine der afrikanischen Tochtergesellschaften der Castel-Gruppe zur Sicherung ihrer Marktanteile im Zuckersektor bewaffnete Milizen finanziert haben, die für Massengräueltaten in der Zentralafrikanischen Republik verantwortlich waren. Nach der Veröffentlichung der Untersuchung hat die französische Antiterror-Staatsanwaltschaft eine Untersuchung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Gruppe eingeleitet.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger. 

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