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“Es war zermürbend, so lange weg zu sein”

(Keystone-SDA) Am Anfang des Schweizer Camps vor den entscheidenden WM-Ausscheidungsspielen gegen Ungarn und Portugal gewährt Breel Embolo einen tiefen Blick ins Dossier seiner komplizierten Verletzungsgeschichte.

Der Schalker Jungstar spricht im Interview mit der Nachrichtenagentur sda erstmals seit dem Startelf-Comeback in der Bundesliga über die entscheidenden Inputs und seine impulsive Reaktion auf einen besonders mühsamen Moment im vergangenen August.

Breel Embolo, Sie haben ein frustrierendes Jahr und endlose Einzelschichten hinter sich. Wie fühlte sich das Startelf-Comeback nach 349 Tagen an?

“Schön und richtig. Als Fussballer will man auf dem Platz arbeiten. Ich liebe meinen Sport, ich mag den Rasen. Der Kraftraum ist nicht meine Welt. Es war tatsächlich zermürbend, so lange weg zu sein.”

Im letzten Juni erhoben sich über 10’000 Schalker an der Mitgliederversammlung, um Sie mit einer Standing Ovation zu würdigen. Kaum ein anderer Spieler mit nur elf Bundesliga-Partien geniesst eine vergleichbare Popularität.

“Die Reaktion der Fans hat mich sehr berührt. Ich bin halt einer, der sagt, was er denkt und fühlt. Ich stelle mich gerne vorne hin und übernehme Verantwortung, bin greifbar und authentisch. Ich verstelle mich nie. Das sehen die Leute und schätzen es.”

Den Frontmann Embolo gab es wegen der komplizierten Knöchelfraktur bisher aber nur kurzzeitig. Sie drängten zurück, das Umfeld bremste. Wie schwierig war es, die Nerven nicht zu verlieren?

“Christian Heidel (Sportchef) hat für mich in dieser Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Er machte mir klar, dass ein Breel mit einem halben Fuss nicht die ganze Leistung abrufen würde. Er machte sich immer stark für mich, um in der Reha-Phase einen optimalen Ablauf garantieren zu können.”

Musste Heidel Sie auch mental stützen?

“Wenn man einen Transfer zu einem Klub wie Schalke macht, denkt man nur an die schönen Seiten. Wenn man auf den Platz läuft, dreht sich alles um den nächsten Sieg. Dann passiert es plötzlich. Im ersten Moment schoss mir der Gedanke durch den Kopf: ‘Warum ich? Warum ausgerechnet jetzt?’ Als ob es einen idealen Zeitpunkt gäbe für einen solchen Zwischenfall.”

Wie lange hielt das Tief an?

“Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, negativ zu denken. Ich wurde sofort unterstützt – vom Verband, vom Klub, von der Familie. Ich wollte raschmöglichst gesund werden und versuchte, in erster Line zu beeinflussen, was zu beeinflussen war.”

Wie werten Sie im Nachhinein die Einladung Petkovics, ein paar Sommertage im Kreis der Nationalmannschaft zu verbringen?

“Das Nachfragen nach der Gesundheit war mir viel wert. Ich hatte trotz der Verletzung das Gefühl, ein Teil des Teams zu bleiben. Eine schöne Erfahrung – so fällt einem die endgültige Rückkehr nicht mehr schwer.”

Nochmals zurück zur Verletzung. Heidel machte in verschiedenen Interviews klar, dass Ihr Comeback auf höchstem Niveau nicht selbstverständlich gewesen sei. Fällt Ihr Fazit ähnlich aus?

“Ich realisierte zunächst gar nicht, wie gravierend alles war. Ich glaubte tatsächlich, nach vier Monaten wieder auf dem Platz zu stehen. Dabei musste ich wieder bei null beginnen, laufen lernen, das Vertrauen in meinen Körper aufbauen. Es war ein langer Prozess, bis ich wieder frei war im Kopf, bis alles abgehakt war.”

Haben Sie während Ihrer fast einjährigen Rehabilitation neue Seiten an sich entdeckt? Oder anders gefragt: Gewannen Sie an Reife dazu?

“Wenn man so lange Zeit zu Hause verbringen muss, bleibt natürlich Raum, alles zu hinterfragen und zu analysieren. Diese vertiefte Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper hilft. Ich war seit dem neunten Lebensjahr von Montag bis Freitag mit dem Fussballplan unterwegs. Von einem Tag auf den anderen war dieser tägliche Adrenalin-Schub weg. Da macht man sich zwangsläufig Gedanken – wie weiter zu Beispiel?”

Gutes Stichwort: Wie weiter? Wie sieht Ihr Entwurf für diesen Herbst aus?

“Ich versuche, so viele Spielminuten wie möglich zu bekommen, jeden Zweikampf ohne Zurückhaltung anzunehmen. Die Angst darf kein Thema sein. Mich soll auch keiner verschonen, Mitleid brauche ich keines – und die Verletzung soll nie eine Ausrede sein.”

Man hört, Sie hätten sich bis zur Schmerzgrenze gequält, um den Anschluss wieder zu schaffen.

“Ich wollte viel, vielleicht manchmal zu viel. Mein Ziel nach all den Sonderschichten war, von Saisonbeginn weg voll dabei zu sein. Das Gym besuchte ich täglich, im körperlichen Bereich schuftete ich während der Vorbereitung so hart wie nie zuvor, bei den Sprinttests war ich einer der Schnellsten. Ich glaubte, bereit zu sein, durfte aber nicht eingreifen. Das Warten empfand ich als mühsam.”

Wie reagierten Sie?

“Impulsiv! Wenn es nach mir ginge, würde ich bereits mehr spielen. Aber mein Klub-Trainer geht sehr vorsichtig mit mir um. Das habe ich zwar zu akzeptieren, das Gespräch mit ihm und Heidel suchte ich dennoch.”

Worum ging es?

“Ich wünschte mir Spielpraxis. Mir war völlig egal, wo und wann! Ich erklärte den Verantwortlichen, dass ich gerne in der U23 spielen würde, falls ich überzählig sei.”

Der Rekordeinkauf der Schalker Klubgeschichte nahm den Umweg über die 5. deutsche Liga.

“Es war speziell, ein Teil der Gegenspieler ist Schalke-Fan, die andere Hälfte steht zum BVB. Mir taten die Spiele gut. Ich sagte zu den Jungs: ‘Ich brauche euch, um wieder in Fahrt zu kommen, aber ich komme nicht für einen Eiertanz. Ich will hier gewinnen.’ Es war eine gute Erfahrung. Ich lernte einen neuen Teil des Klubs kennen und schätzen.”

Themawechsel. Sie kehren ins Nationalteam zurück. Wie haben Sie die Entwicklung während Ihrer fast einjährigen Abwesenheit wahrgenommen?

“Das Nationalteam machte weiter wie an der EM im Achtelfinal gegen die Polen. Wir zogen unser Spiel und Tempo durch. Verstecken müssen wir uns vor niemandem. Die Haltung ist gut, die Mentalität stimmt. Nur dürfen wir trotz der tollen Ergebnisse die Realität nicht aus den Augen verlieren – Portugal hat den EM-Titel gewonnen, nicht wir.”

Die Finalissima in Lissabon – was kommt auf die Schweiz zu?

“Wir haben ein tolles Nationalteam-Jahr geboten. Jetzt kann die Krönung folgen, im Duell mit den Besten Europas. Wir haben uns eine sehr, sehr gute Ausgangslage erarbeitet.”

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