Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Nationalcoach O’Neill über Leidenschaft und beschränkte Ressourcen

(Keystone-SDA) Eine Woche vor dem WM-Playoff-Hinspiel in Belfast gegen die Schweiz gewährt der nordirische Nationalcoach Michael O’Neill einen Blick hinter die Kulisse des Aussenseiters.

Im Rahmen einer Interview-Runde sprach O’Neill im Windsor Park mit der Nachrichtenagentur sda über Leidenschaft, persönliche Umwege, seine grosse Klubliebe und die beseitigten politischen Konflikte.

Es gab Leute, die in Ihnen den neuen George Best sahen – übertrieben, oder war das tatsächlich so?

“Als Teenager spielte ich in Newcastle an der Seite von Paul Gascoigne. Eine aufregende Zeit, ich genoss sie. Was andere von mir erwarteten, kümmerte mich nicht gross. Ich glaubte nicht daran, der neue George Best zu sein – und ich erreichte auch nie, was man mir eigentlich zugetraut hätte.”

Jetzt holen Sie mit den Nordiren Verpasstes nach.

“Es ist schön, Nordirland in eine gute Position gebracht zu haben. Es fühlt sich an wie eine feuchtfröhliche Party, die gut läuft – da will man möglichst lange dabei bleiben.”

Und danach? Zurück zur Jugendliebe?

“Ich war ein Liverpool-Fanatiker. Als Kind verfolgte ich die Reds hautnah – Dalglish, Rush, all diese grossen Figuren. Für britische Coaches ist es kompliziert, einen Job in der Premier League zu erhalten. Und ganz oben fehlt die Zeit, etwas Nachhaltiges aufzubauen.”

Sie wohnen in Schottland – warum eigentlich?

“Ich lebe seit bald 15 Jahren mit Unterbrüchen in Edinburgh, wo ich einst gespielt habe. Es macht wenig Sinn, als nordirischer Nationalcoach in Belfast zu wohnen. Meine Spieler sind fast alle in England und Schottland beschäftigt. Da würde ich ja permanent im Flugzeug sitzen.”

Wann haben Sie eigentlich letztmals ein Klubspiel in Ihrer Heimat besucht?

“Den Cupfinal im letzten Jahr. Unsere Liga hat kein internationales Format. Wir sind im Ranking der UEFA an 49. Stelle klassiert. Alles ist nur halb professionell. Selbst die finnische Meisterschaft ist besser. Das ist für mich eine ziemlich frustrierende Situation. Ich würde gerne mehr Junge spielen sehen, aber die verlassen mit 16 das Land. Ohne starke Basis ein Nationalteam zu betreiben, ist ein schwieriges Unterfangen.”

Weshalb ist die Situation derart unbefriedigend?

“Wir haben beschränkte Ressourcen, in Nordirland leben knapp 1,8 Millionen Menschen. Investoren sind keine in Sicht, die Spieler müssen alle normal arbeiten. Ich selber liess mich vor 30 Jahren von Coleraine nach Newcastle transferieren. Geändert hat sich bei uns seither nicht viel, die Liga funktioniert noch immer gleich.”

Halten Sie Fortschritte zeitnah für möglich?

“Ich würde Veränderungen begrüssen, aber registriere natürlich, wie verkrustet alles ist. Unter diesen Umständen ist es schwierig, bessere Spieler anzuziehen. Das Geld fehlt, das Interesse ist nicht da. Frisches Blut würde guttun, nur zwölf Prozent sind unter 21-jährig, Ausländer spielen keine mit.”

Verfolgen Sie den Schweizer Weg? Die Super League gilt als Ausbildungsliga, der Verband investiert Millionen in die Nachwuchsarbeit.

“Ich habe die Entwicklung nicht im Detail verfolgt, um ehrlich zu sein. Aber die Schweiz verfügt über ausgezeichnete Klubs – ich denke dabei an Basel in der Champions League. Die Schweizer haben generell mehr Optionen: die Serie A, die Bundesliga, die Premier League. Wir hingegen konzentrieren uns fast ausschliesslich auf den englischen Markt. Dort sind die Verhältnisse kompliziert, das Level ist extrem hoch. Viele unserer Talente kehren enttäuscht zurück und springen ab. Wir verlieren auf diese Weise eine Menge Spieler.”

Mit der SFV-Auswahl haben Sie sich intensiver beschäftigt. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gelangt?

“Eine sehr gute Mannschaft mit diversen Spielern aus der Serie A und der Bundesliga. Zwei Top-16-Klassierungen an den letzten beiden Endrunden, viel Turniererfahrung, eine gute Altersstruktur, eine starke Qualifikation mit neun Siegen.”

Aber trotzdem nicht für die WM qualifiziert.

“Ich an ihrer Stelle wäre nicht erfreut, das WM-Ticket noch nicht in der Tasche zu haben. Das muss frustrierend sein. Ich kann mich ein bisschen hineinversetzen in die Köpfe der Schweizer. Aber die Hürde in Europa ist nun mal höher als überall sonst.”

Glauben Sie, die Schweizer hätten sich aus freien Stücken für Nordirland als Playoff-Kontrahenten entschieden?

“Mein Schweizer Kollege könnte diese Frage vermutlich besser beantworten als ich. Nur so viel: Ein paar Schweizer stehen mit ihren Klubs am Sonntag noch im Einsatz, bereits vier Tage später müssen sie in Belfast antreten. Es ist nicht nur ein Vorteil, auswärts zu starten.”

Nordirland tritt unter komplett anderen Voraussetzungen zu diesem Playoff an. Es ging vom ersten Kampagnen-Tag an nur um Platz 2 hinter Weltmeister Deutschland.

“Wir wussten vom ersten Tag, dass unser Weg an die WM über das Playoff führen wird. Entsprechend früh setzten wir uns Ziele, was nötig sein würde, um auf Kurs zu bleiben. Mit sieben Partien ohne Gegentor gelang uns das perfekt.”

Ihre ersten beiden Jahre im Amt verliefen unangenehm. Von den ersten 18 Spielen gewannen Sie nur eines. Erinnern Sie sich noch an die Kommentare der Experten?

“Ach wissen Sie, wir hatten so viele Probleme – ein marodes Stadion, eine Menge Auswärtsspiele, ein Team ohne Selbstvertrauen, drei, vier Debütanten. Es war schwierig, ein Momentum aufzubauen. Gegen die Grossen sahen wir zwar gut aus, aber gegen Aserbaidschan oder Luxemburg verloren wir Punkte. Das passiert uns heute nicht mehr.”

Sie sind weiterhin auf Profis aus unteren Ligen angewiesen und mittlerweile dennoch ein Endrundenanwärter. Wie ist dieser Wandel erklärbar?

“Der Spirit, die gute Atmosphäre, die sehr gute Organisation, damit zeichnen wir uns aus. Ich erkenne gewisse Parallelen zu Island. Wir treten strukturiert auf. Auf besonders viel Ballbesitz sind wir nicht aus, das Spiel ohne Ball hingegen gehört zu unseren Stärken.”

2014 setzte ein bemerkenswerter Aufschwung ein. Hat der Trip nach Südamerika damit zu tun? Und wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, mitten im Frühsommer nach Montevideo zu fliegen?

Als kleiner Verband darf man nicht wählerisch sein, unsere Optionen sind beschränkt. Nachdem wir die WM in Brasilien verpasst hatten, sagte ich meinen Spielern: Hey, uns wird die vielleicht einmalige Chance geboten, in Südamerika anzutreten. Wir durften gegen Uruguay im ersten WM-Final-Stadion der Geschichte einlaufen und reisten danach weiter nach Santiago de Chile. Es war der Start in eine spannende Zukunft. Wir rückten als Team näher zusammen, die gegenseitige Beziehung intensivierte sich. Die Südamerika-Tour hat etwas verändert.”

Früher rannte Ihr Team ausschliesslich, heute tut sie das Gleiche mit einem Plan.

“Wir waren schon immer beseelt von unserer Leidenschaft. Aber wir benötigten Leitplanken, um weiterzukommen. Es ging darum, die Energie zu kanalisieren. Wir haben keinen Bale und keinen Lewandowski, der uns in engen Situationen rettet. Bei uns haben die Spieler einen anderen Auftrag. Es soll schwierig und mühsam sein, gegen uns zu spielen, und wir wollen im Gegenzug einen Weg finden zu gewinnen.”

Erzählen Sie mehr über Ihre Methodik. Sie gelten als Spieler-Flüsterer, als einer, der in die Köpfe seiner Akteure eindringt und das Mindset ändern kann.

“Wenn man mit limitierten Möglichkeiten Aussergewöhnliches schaffen will, ist die Mentalität ein Thema. Ich musste hier erst einmal Erwartungen generieren. Viel zu lange hatten wir keine Erwartungen. Jetzt kommen die Zuschauer ins Stadion und erwarten etwas von uns.”

Sie holen Ihre Equipe auf verschiedenen Ebenen ab.

“Ich habe den Spielern schon Persönlichkeiten vorgestellt, die in ihren Branchen höchst erfolgreich sind. Carl Frampton (Ex-Box-Weltmeister) besuchte uns im Hotel. Snow Patrol (eine britische Band) und der Golfer Rory McIlroy sprachen zum Team – fabelhaft! Sie leben Stolz und Identität vor.”

Was löste der Golf-Superstar aus?

“Ein Einzelsportler zeigte auf, wie gross der Impact einer erfolgreichen Fussball-Auswahl sein könnte. Ein Golfer ist ein Solist, eine Fussball-Mannschaft deckt viel mehr Schichten ab. Unser Team vertritt alle.”

Jeden? Protestanten und Katholiken?

“Nein, nicht restlos alle. Die Schweiz muss rund zwölf verschiedene Nationalitäten unter einen Hut bringen, das neue Nordirland hat andere Herausforderungen zu bewältigen. Früher explodierten Bomben, die Katholiken wuchsen unter schwierigen Bedingungen auf. Der Bürgerkrieg ist Geschichte, heute ist das Leben vergleichsweise easy – der religiöse Background eines Spielers ist unerheblich.”

Sie sind offenbar der erste Katholike an der Spitze der “Norn Iron” seit über 50 Jahren?

“Das ist so, ja, aber die Religion ist für mich zweitrangig.”

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft