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Tour-Leader Geraint Thomas auf unbekanntem Terrain

(Keystone-SDA) Wenig überraschend hält das Team Sky vor den letzten und entscheidenden Tour-Tagen die besten Karten in der Hand. Erstaunlicherweise aber mit Geraint Thomas – und nicht Chris Froome.

Seit er mit seinem Solosieg am vergangenen Mittwoch in La Rosière das Maillot jaune übernommen hat, steht der langjährige Sky-Edelhelfer Geraint Thomas im Fokus der Öffentlichkeit. Wer ist also dieser 32-jährige Waliser, der sich gerade auf bestem Weg befindet, die 105. Tour de France zu gewinnen?

Seine Fähigkeiten auf der Strasse hatte Thomas früh angedeutet. 2004 siegte er beim Junioren-Rennen von Paris – Roubaix. Doch erst im Herbst 2012 und nach zweimal Olympia-Gold in der Mannschaftsverfolgung wechselte er definitiv von der Bahn auf die Strasse. Mit einher ging ein bemerkenswerter Gewichtsverlust. Als er noch auf der Bahn gefahren sei, so Thomas gegenüber der französischen Sportzeitung ‘Equipe’, “war ich fett und nicht wirklich seriös”. Er habe es wie viele seiner Landsleute geliebt, zünftig Bier zu trinken.

“Später aber unternahm ich grosse Efforts, um abzunehmen. Denn das Gewicht ist der wahre Schlüssel.” Im Vergleich zu seinem Gewicht vor zehn Jahren ist der 1,83 m grosse Thomas nun mindestens fünf Kilogramm leichter. Mit nur noch knapp 70 Kilogramm fährt es sich bedeutend leichter über die hohen Pässe. In diesem Juni folgte mit dem Triumph beim Critérium du Dauphiné, dem wichtigen Vorbereitungsrennen auf die Tour de France, die (vorerst) grösste Belohnung für diese Anstrengungen.

“Das wäre dumm”

Viele Fragen, die der bislang keine Schwäche zeigende Thomas in den letzten Tagen zu beantworten hatte, drehten sich um Froome und die vertauschten Positionen im Gesamtklassement. Der Vorsprung des (ehemaligen?) Helfers auf seinen Teamkollegen und vierfachen Tour-de-France-Sieger beträgt vor den vorentscheidenden Bergetappen in den Pyrenäen 1:39 Minuten. Der drittklassierte Niederländer Tom Dumoulin liegt nur elf Sekunden mehr zurück.

Thomas verwendete seine Aussage “Chris ist unser Leader” ähnlich einem Mantra. Am Samstag nach der Zielankunft in Mende – und einer neuerlich souveränen Leistung – vernahm der aufmerksame Zuhörer allerdings eine leicht geänderte Version. Der Waliser scheint sich schnell an Gelb und seine Leader-Rolle zu gewöhnen. Die Hauptsache sei, so Thomas, dass das Team gewinne. “Keinesfalls darf es so weit kommen, dass Chris und ich gegeneinander fahren und Tom Dumoulin gewinnt. Das sähe ganz dumm aus.”

Grossartige Position des Teams Sky

Um die Rundfahrt wie in den vergangenen drei Jahren zu gewinnen, müsste Froome, seit 2008 in der gleichen Mannschaft wie Thomas fahrend und (vor Tour-Beginn) der unbestrittene Leader von Sky, seinen Teamkollegen attackieren – oder müsste Thomas in den Pyrenäen zu schwächeln beginnen. Das zweite Szenario ist dabei wohl das wahrscheinlichere, da der Waliser keinerlei Erfahrung hat, eine Rundfahrt in der dritten und entscheidenden Woche anzuführen.

“Jeder Tag wird eine Herausforderung. Ich befinde mich etwas auf unbekanntem Terrain”, gibt Thomas zu. Doch gleichzeitig betont er, dass das Gleiche gewissermassen auch für Dumoulin und Froome gelte, die den anstrengenden Giro d’Italia in den Beinen haben und deren Reserven dadurch vielleicht geringer sind. “Wir wissen also auch nicht, was mit ihnen geschehen wird.”

Mit der Doppelführung befinde sich vor allem das Team in einer grossartigen Position, so Thomas weiter. “Ich bin mir sicher, dass ein Sieg das Sky-Management glücklich machen würde. Egal, wer von uns zwei gewinnt. Wobei ich natürlich glücklicher wäre, wenn ich der Sieger wäre.” Zugleich versprach der aktuelle Tour-Leader aber einmal mehr, dass er Froome in den kommenden Pyrenäen-Etappen wenn nötig unterstützen wird. Schliesslich habe dieser sechs Triumphe bei grossen Rundfahrten und mehr Erfahrung aufzuweisen. Thomas hat dabei wohl nicht zuletzt auch seine eigene, höchst bescheidene Ausbeute bei Grands Tours im Hinterkopf. 2015 war er in Frankreich als Vierter auf dem Weg zu einem Topresultat. Dann aber zog er am drittletzten Tour-Tag einen “Jour sans” und handelte sich gleich 22 Minuten Rückstand ein. Am Ende belegte er Platz 15 in der Gesamtwertung – sein nach wie vor bestes Resultat nach einem Dutzend Teilnahmen an einer der drei grossen Rundfahrten.

Bergsprint mit Formel-1-Start

Dass sich die Top-Fahrer in der ersten Pyrenäen-Etappe in Ruhe liessen, dürfte auch mit dem speziellen Teilstück am Mittwoch in Zusammenhang stehen. Denn anders als nach Bagnères-de-Luchon werden die Anwärter auf den Gesamtsieg ihre Karten nun aufdecken müssen. Zwar führt die 17. Etappe nur über 65 Kilometer, die Fahrer haben aber zwei Berge der zweithöchsten Kategorie und den 16 Kilometer langen Schlussaufstieg auf den Col du Portet zu bewältigen.

Spektakel verspricht der Bergsprint aber auch wegen des ungewöhnlichen Starts. Anders als üblich werden die Profis nämlich nicht im Pulk losfahren. Stattdessen müssen sie sich in einer Formation aufstellen, ähnlich wie in der Formel 1. Der Gesamtführende darf ganz vorne beginnen, dahinter starten die Verfolger. Unmittelbar nach dem Start beginnt die erste der drei Steigungen, die Kontrolle der Etappe dürfte für Sky schwierig werden.

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

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