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Die Schweiz und die EU wollen verhandeln – die Aufbruchstimmung hält sich in Grenzen

Bundesratskonferenz zur Verabschiedung des Mandats für die Verhandlungen mit der EU
Aussenminister Ignazio Cassis (3.v.l.) an der Pressekonferenz, an der das Verhandlungsmandat präsentiert wurde. Der Weg bis zum Abschluss könnte sich in die Länge ziehen. KEYSTONE / PETER SCHNEIDER

Es brauchte drei Jahre, 11 Sondierungsrunden und 46 Fachtreffen: Nun sollen die Verhandlungen über das künftige Verhältnis zwischen Bern und Brüssel offiziell starten. Das müssen Sie wissen.

Die Rauchzeichen sind gesetzt: Die Schweizer Regierung hat das MandatExterner Link für die Verhandlungen mit der EU verabschiedet, ein paar Tage später gab auch die EU grünes Licht. Damit ist der Weg frei, ein neues Abkommen über die künftigen Beziehungen zu vereinbaren: Auf der einen Seite die neutrale Schweiz, bemüht um politische Unabhängigkeit und an internationalem Handel interessiert. Auf der anderen Seite die Europäische Union, der grösste Wirtschaftsraum der Welt, der sich politisch immer weiter vertieft und vermutlich weiterwachsen wird.

Um was geht es konkret?

Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ist für die Schweiz bislang über eine Vielzahl bilateraler Verträge geregelt. Erklärtes Ziel der Regierung ist es, diesen bilateralen Weg zu stabilisieren und auszubauen. Dies auf Druck der EU, die das Verhältnis zur Schweiz – dessen jetzige Form seit den 1990er-Jahren gleichblieb – aktualisieren will. Es geht einerseits um die Aktualisierung bestehender Abkommen und andererseits um den Abschluss neuer Vereinbarungen in den Bereichen Elektrizität, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.

Grössere Knacknüsse sind die dynamische Übernahme künftiger EU-Rechtsänderungen, die Personenfreizügigkeit, in der sich die Schweiz gewisse Ausnahmen sichern will, sowie der Lohnschutz. Auch die Frage der Streitbeilegung und die Rolle des Europäischen Gerichtshofes dabei sorgen für Diskussionen.

Was sind die Reaktionen in der Schweiz?

Momentan sind zwei Lager gut erkennbar: Die rechtskonservative SVP geht auf Totalopposition und spricht von einem “Unterwerfungsvertrag”. Die Partei kultiviert seit den 1990er-Jahren eine EU-feindliche Haltung und konnte unter anderem damit zur Partei mit den grössten Stimmanteilen aufsteigen. Sie sind damit aktuell auch die einzigen mit einer klaren politischen Botschaft.

Die übrigen Parteien signalisieren grundsätzliche Zustimmung, wobei jedoch praktisch alle Distanz wahren – sie wollen sich nicht zu fest auf die Äste hinauslassen. Auch das ist eine Konstante in den schweizerisch-europäischen Beziehungen: Trotz der grossen Nähe ist die Kritik stets lauter als die Zustimmung. Je nach inhaltlicher Ausrichtung wird ein anderer Teilbereich der Verhandlungsmasse kritisiert.

In diesem zweiten Lager ist auch der grösste Teil der Zivilgesellschaft zu verorten. Verbände von Unternehmen und Arbeitgeberschaft zum Beispiel unterstreichen die Möglichkeit, mit stabilen bilateralen Beziehungen die Rechtssicherheit und den Wirtschaftsstandort Schweiz zu stärken. Die grösste ausserparlamentarische Kritik kommt von Gewerkschaften, die eine Verschlechterung des Lohnschutzes befürchten und das Mandat in dieser Hinsicht als untauglich taxieren.

SVP Versammlung vor dem Bundeshaus
Sind die einzigen mit einer klaren Message: Die rechtskonservative SVP lehnt jegliche Annäherung an die EU ab. KEYSTONE / ANTHONY ANEX

Was sagen Schweizer Medien dazu?

Anders als beim institutionellen Rahmenabkommen, dass die Schweiz 2021 einseitig abbrach, sei die Situation heute besser, kommentiert das Schweizer Radio und Fernsehen SRFExterner Link. Allerdings sei dennoch “wenig Optimismus zu spüren”.

In manchen Meinungsbeiträgen wird die Zurückhaltung von Parteien und Zivilgesellschaft kritisiert, so etwa in der Schweizer Ausgabe der ZeitExterner Link: Man müsse “die Europafrage endlich als das erkennen, was sie ist: eine Entscheidung über das grosse Ganze.” Und entsprechend mobilisieren.

Wie das allerdings geschehen soll, bleibt unklar. Die Boulevard-Zeitung SonntagsBlickExterner Link schreibt, die Regierung brauche dringend einen “geerdeten Mister Europa – oder eine Miss Europa”. Eine Person, die sich von der elitären “classe politique” abhebe und die Dringlichkeit des Anliegens der Bevölkerung authentisch übermitteln könne.

Ob jedoch eine einzelne Person das schafft, ist fraglich. Die Westschweizer Zeitung Le TempsExterner Link sieht auf jeden Fall die siebenköpfige Regierung in der Pflicht, sich “breit, schnell und entschlossen” zu äussern. Im rechten Spektrum ist man allerdings nicht zufrieden mit dem Vorgehen des Bundesrates. So schreibt die SonntagsZeitungExterner Link, es handle sich um “europapolitischen Selbstmord”.

Europäische Medien behandeln im Gegensatz dazu das Thema kaum. Das erstaunt nicht, fiel doch selbst die Reaktion der EU alles andere als überschwänglich aus. Wie die liberal-konservative NZZExterner Link in Erinnerung ruft, hat die EU “grössere Sorgen als das schwierig gewordene Verhältnis zur Schweiz”.

Wie geht es weiter?

Die EU möchte einen raschen Abschluss erzielen, laut Plan sollen bereits im März die Verhandlungen aufgenommen werden. Denn im Juni finden die europäischen Wahlen statt, danach wird eine neue Kommission gewählt. Wie realistisch das Ziel ist, die Verhandlungen vorher abzuschliessen, ist unklar. Zumal die Schweizer Regierung im Inland signalisiert hat, in manchen Punkten von der EU Nachbesserungen zu verlangen. Europäische Funktionäre haben sich ähnlich ausgedrückt: Sollte die Schweiz mehr verlangen, würden sie das ebenfalls tun.

Zwar hat die Schweizer Regierung in einem Konsultationsverfahren bereits vor die Haltung von Parlament, Kantonen, Verbänden und Sozial- und Wirtschaftspartnern geklärt. Sie stelle fest, dass “die grosse Mehrheit” die bestehende Grundlage unterstützeExterner Link. In der direkten Demokratie der Schweiz mit ihren dauernd wechselnden Allianzen gibt es aber keine absoluten und stabilen Loyalitäten. Und das Thema EU hat in den letzten Jahrzehnten allzu oft für erhebliche politische Verwerfungen gesorgt.

Frühestens 2026 wird eine entsprechende Volksabstimmung erwartet. Zumindest diesbezüglich herrscht Einigkeit in der Schweiz: Deren Ausgang ist völlig offen.

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