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“Schweizer:innen im Ausland haben es verdient, dass sie im Parlament vertreten sind”

Jean-Luc Addor, SVP-VS, spricht zur Grossen Kammer an der Sommersession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 31. Mai 2023 im Nationalrat in Bern.
Er wollte eine direkte Vertretung der Auslandschweizer:innen im Nationalrat: SVP Nationalrat Jean-Luc Addor. KEYSTONE/© KEYSTONE / ALESSANDRO DELLA VALLE

Der Nationalrat hat einen Vorstoss zur Schaffung eines Wahlkreises für Auslandschweizer:innen abgelehnt. Die Idee, die auch von der Auslandschweizer-Organisation vertreten wird, fand bisher keine politische Mehrheit.

Die Idee, für die kommenden Nationalratswahlen einen für Auslandschweizer reservierten Wahlkreis zu schaffen, ist dem Parlament nicht attraktiv genug. Der Nationalrat hat Anfang Woche mit 30 zu 152 Stimmen einen entsprechenden Vorschlag  von Nationalrat Jean-Luc AddorExterner Link von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei abgelehnt.

Auch der Bundesrat war gegen den Vorschlag. Die Landesregierung betonte, dass diese Idee eine Verfassungsänderung erfordern würde. Ausserdem würde es die Bindung der im Ausland lebenden Personen an ihren Heimatkanton sowie ihre politischen Rechte auf kantonaler Ebene in Frage stellen. Für Jean-Luc Addor ist dies aber nicht der eigentliche Grund für die Vorbehalte im Parlament, wie er nachfolgend im Interview erklärt.

swissinfo.ch: Ihre Motion wurde abgelehnt. Sind die Parlamentarier:innen nicht bereit, für die Auslandschweizer:innen die Verfassung zu ändern?

Jean-Luc Addor: Die Verfassung nicht ändern zu wollen, das ist ein formalistisches Argument. Wenn man etwas nicht tun will, findet man alle möglichen Argumente. Der wahre Grund, der einige Kollegen dazu gebracht hat, diesen Vorschlag abzulehnen, liegt woanders. Wenn man einen Wahlkreis für Auslandschweizer:innen schafft, haben sie Anspruch auf Sitze im Parlament. Einige Parlamentarier:innen befürchten daher, sie könnten ihren Platz an Vertreter der Diaspora verlieren.

Ich habe meinen Kolleg:innen, die um ihren Platz fürchten, ein Beispiel genannt: Bei der Gründung des Kantons Jura wurden zwei Sitze für die Sitzungen der Bundesversammlung hinzugefügt. Warum sollte man die Zahl der Mitglieder des Nationalrats nicht erhöhen, um den Auslandschweizern einen kleinen Platz zu geben?

Mehr als 800’000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Dies entspricht fast 10% der Wohnbevölkerung. 227’000 von ihnen sind in den Stimmregistern eingetragen und möchten ihre politischen Rechte in der Heimat ausüben. Einem Auslandschweizer [dem Sozialdemokraten Tim Guldimann] war es 2015 gelungen, in den Nationalrat gewählt zu werden, dem er auch kurz angehörte. In der übrigen Zeit sind diese Personen jedoch so gut wie nie im Parlament vertreten.

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass die Auslandschweizer physisch im Parlament vertreten sind?

Weil sie vollwertige Schweizer sind. Niemand würde es wagen, sie als halbe Schweizer zu bezeichnen. Das Leben hat sie einfach dazu gebracht, dauerhaft oder vorübergehend ins Ausland zu gehen. Müssen wir nicht eine institutionelle Antwort auf die Herausforderung finden, dass sie im Parlament vertreten sind? Das habe ich mich gefragt. Aber die Antwort des Parlament ist unerbittlich.

Was mir auffällt, ist, dass die Auslandschweizer-Organisation nicht aktiv geworden ist. Niemand will sich bewegen, niemand will etwas tun. Man muss also davon ausgehen, dass es kein Bestreben ist.

Man ist es eher gewohnt, dass Sie die Schweizer Werte, also jene der Inlandschweizer:innen verteidigen. Mit diesem Antrag verteidigen Sie die Schweizer, die das Land verlassen haben. Warum ist das so?

Eben, ich verteidige die Schweizer. Sind die Auslandschweizer weniger schweizerisch als Sie und ich, weil sie die Heimat verlassen haben? Wir freuen uns, dass sie die Interessen der Schweiz vertreten. Sind Schweizer Rentner, die ihr ganzes Leben lang in der Schweiz gearbeitet haben und nun auswandern müssen, weil sie nicht über die Runden kommen, keine Schweizer? Sie verdienen es, im Parlament besser vertreten zu sein.

Im Ausland lebende Schweizer Rentner wurden von Ihrer Partei während der Kampagne zur 13. Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) angegriffen. Einige Ihrer Kollegen haben sie als Profiteure bezeichnet. Sie sind also nicht damit einverstanden?

In der Delegiertenversammlung der SVP zu diesem Thema war ich der einzige, der aufgestanden ist. Anstatt Schweizer Rentner zu stigmatisieren, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben und bei uns nicht anständig leben können, sollten wir uns lieber fragen, wie wir dafür sorgen können, dass sie nicht gehen müssen.

Ihre Parteikollegen haben Ihren Antrag kaum unterstützt. Auch dieses Mal konnten Sie sie nicht überzeugen.

Auch in den anderen Fraktionen hatte ich keinen Erfolg. Ich hielt es für eine interessante Idee. Das Parlament sieht das anders. Nun denke ich, dass wir die Problematik ruhen lassen und sie später auf andere Weise wieder aufgreifen sollten. Was mich interessiert, ist, was die Auslandschweizer denken. Ich werde mich nicht gegen ihren Willen für sie einsetzen.

Was würde die Schaffung eines Wahlkreises für die Auslandschweizer konkret ändern?

In den Parlamenten der Länder, die uns umgeben, gibt es zum Beispiel Wahlkreisvertreter der Italiener oder der Auslandsfranzosen. Zwar vertreten diese Abgeordneten nicht alle Bürger im Ausland, aber zumindest gibt es eine institutionelle Antwort auf die Vertretung dieser Personen. Hier haben wir zwar eine Parlamentarische Gruppe Auslandschweizer, der ich angehöre. Aber fühlen sich unsere Landsleute im Ausland vom Schweizer Parlament angemessen vertreten? Ich bin mir nicht sicher.

Haben Sie den Eindruck, dass die Diaspora in der Eidgenossenschaft nicht genügend politisches Gewicht hat?

Ich denke, das ist ein Thema, über das man nachdenken sollte. Wenn sie diesen Eindruck haben, sollten sie bei den nächsten Wahlen stärker in Erscheinung treten und ihre Botschaft besser vermitteln, insbesondere über die Auslandschweizer-Organisation.

Sind Sie der Meinung, dass die Lobby der Fünften Schweiz nicht genügend Gewicht hat?

Sie hat ihre eigene Logik, aber ich bin nicht überzeugt, dass sie den Wünschen einer Mehrheit der Auslandschweizer entspricht.

Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) befürwortet die Schaffung eines Wahlkreises für die Auslandschweizer. “Eine direkte Vertretung im Parlament zu haben, würde einen echten Mehrwert darstellen. Zudem wäre es mit einem eigenen Wahlkreis wahrscheinlich einfacher, das E-Voting für die Diaspora einzuführen”, meint die Direktorin Ariane Rustichelli.

Innerhalb der Organisation befasse sich eine Arbeitsgruppe seit mehreren Jahren mit der Möglichkeit, diese Idee umzusetzen. Sie wird ihre Ergebnisse am 11. Juli vorlegen. “Wie wir bereits in der Vergangenheit feststellen konnten, zeigt die Abstimmung im Parlament jedoch, dass sich keine politische Mehrheit für einen Wahlkreis für die Fünfte Schweiz abzeichnet”, bedauert Ariane Rustichelli.

Rustichelli ist der Ansicht, dass einiges gegen das Projekt spricht: Etwa die Angst, die Verbindung der Ausgewanderten zu ihrem Heimatkanton zu unterbrechen, die Kosten und die Herausforderung, das bestehende Wahlsystem zu ändern,. “Wir hatten keinen Kontakt mit Jean-Luc Addor, aber wir unterstützen sein Vorhaben, auch wenn es leider wenig Aussicht auf Erfolg hat”, so Ariane Rustichelli.

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Editiert von Samuel Jaberg, ins Deutsche übersetzt von Balz Rigendinger

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