Let’s Talk: Die Macht der Auslandschweizer:innen
Die Schweiz startet in ein Wahljahr. Die Parteien realisieren, dass Schweizerinnen und Schweizer im Ausland entscheidend werden können. Noch nie war dieses Elektorat mächtiger – und noch nie so gut ansprechbar.
Das Elektorat der Auslandschweizer:innen ist in den letzten 25 Jahren enorm gewachsen, von 63’000 auf 211’000. So gross war im Jahr 2021 die Zahl der Schweizer AuslandbürgerI:innen, die sich ins Stimmregister eingetragen hatten.
Es ist ein Viertel der insgesamt 800’000 Swiss Abroad – und es ist ein Stimmvolk von der Grösse des Kantons Neuenburg oder Thurgau.
Woher dieses Wachstum? Ariane Rustichelli, die Direktorin der Auslandschweizer-Organisation ASO, sieht den Grund in einem veränderten Emigrationsverhalten: Schweizerinnen und Schweizer wandern seit rund 30 Jahren nicht mehr für immer aus, sagt sie, sondern temporär, für einige Jahre. Oft erfolge diese temporäre Auswanderung berufsbedingt mit der Aussicht auf Rückkehr. «Das bedeutet, dass die Verbundenheit zur Schweiz viel stärker ist», sagt Rustichelli in «Let’s talk» von swissinfo.ch.
Macht über sechs Sitze im Nationalrat
Damit ist der Schweiz in relativer Stille eine Macht erwachsen. Und diese wird allmählich auch zur Kenntnis genommen. Denn wer es als politische Partei schafft, dieses Elektorat für sich zu aktivieren, hat die Kraft, fünf bis sechs Nationalrät:innen ins 200 köpfige Parlament zu hieven. Das kann für eine politische Partei den entscheidenden Unterschied machen.
Von der Wahlmacht dieses Elektorats haben bei den Wahlen 2019 vor allem die Grünen profitiert. Die sogenannt grüne Welle, die damals über die Schweiz rollte, wurde auch stark aus dem Ausland angeschoben. Dies zeigt eine Auswertung der Stimmen aus dem Ausland, insofern diese verfügbar waren – denn nicht alle Kantone weisen die aus dem Ausland eingegangenen Stimmen separat aus.
Links, grün?
Die nachfolgende Grafik zeigt die Abweichungen der Auslandstimmen gegenüber dem tatsächlichen Wähleranteil der Parteien. Die Auslandschweizer:innen haben 2019 12% mehr Grüne gewählt als die Inlandschweizer:innen, und 7,8% weniger SVP.
Die Auslandschweizer:innen wählen linker und grüner. Ist es so einfach? Die Frage geht an Politgeograf Michael Hermann, Leiter des Forschungsinstituts Sotomo, das dem Schweizer Stimmvolk regelmässig den Puls nimmt. Hermann bestätigt in «Let’s talk»: Ja, das Profil neige im Durchschnitt nach links. «Man sieht: Die SVP, die grösste Partei, ist untervertreten. Das ist auch nicht erstaunlich, denn das sind Leute, die ins Ausland gehen, eine internationale Perspektive haben, in Europa leben. Sie haben darum ein Interesse an der europäischen Integration der Schweiz.»
Am ehesten grünliberal
Dies sei aber nur ein Teil der Analyse. Den anderen beschreibt Hermann so: «Wenn man das Abstimmungsverhalten anschaut, merkt man, dass es nicht einfach ein klassisch linkes Profil ist.» In gesellschaftlichen Fragen oder wenn es um ökologische Themen gehe, stimme dieses Elektorat stark werteorientiert ab. «Es sind eher auch gut gebildete Leute. Es ist ein Profil, das der grünliberalen Partei am ehesten entspricht», sagt der Politologe. Für die im Herbst anstehenden eidgenössischen Wahlen sieht er entsprechend grosse Chancen für die Grünliberalen. «Sie müssten einen Fehler machen, um das nicht umsetzen zu können», sagt er.
Mehr als nur Stimmvieh
Zugleich hebt Hermann den Mahnfinger. Die Auslandschweizer:innen würden nun umworben, doch für diese sei es nun von Bedeutung, dass sie nicht als reines Stimmvieh behandelt würden. «Man kann nicht einfach nur Wahlen mit ihnen gewinnen, man muss sich auch dafür einsetzen, dass ihre Anliegen dann umgesetzt werden.»
Wir haben in der letzten Session des Schweizer Parlaments Politikerinnen und Politiker von allen grossen Parteien gefragt, wie sie die Teilnahme der Fünften Schweiz an der Schweizer Politik beurteilen. Es sind alles Vertreter:innen der parlamentarischen Gruppe «Auslandschweizer», teilweise auch Mitglieder des Auslandschweizerrats. Hier sind ihre Stimmen.
Wieder zum Thema wird anlässlich der bevorstehenden Wahlen das E-Voting. Dieses ist ein Dauerbrenner auf der politischen Agenda der Auslandschweizer-Organisation. Bestehende Systeme wurden zuletzt aus Sicherheits- und Kostengründen eingestellt. Nun soll ab Juni mit einem neuen System der Schweizerischen Post in drei Kantonen eine Testphase gestartet werden.
ASO-Direktorin Ariane Rustichelli sieht im E-Voting eine Chance für die Schweizer Demokratie, denn dieses würde die Beteiligung der Auslandbürger:innen markant erhöhen. Der Enthusiasmus vergangener Tage unter den Auslandschweizer:innen ist nach zahlreichen Rückschlägen aber weg. «Wir haben noch Hoffnung, aber der Weg ist noch sehr lang», sagt Rustichelli. «Und wir wissen, wenn irgendetwas nicht klappt mit diesem Test, dann ist dies das Ende des E-Votings der Schweiz.»
Die meisten leben nah der Schweiz
Rustichelli betont, dass die Postwege für die Abstimmungs- und Wahlunterlagen auch für jene Schweizer:innen, die relativ nahe der Schweiz wohnen, oft zu lang sind. Fast Zweidrittel der Auslandschweizer:innen sind es immerhin, die in Europa leben. Knapp die Hälfte wohnt gar in Nachbarländern. Nur eine Minderheit hält sich in Regionen auf, in denen die Post schon rein von der Distanz her bezüglich Pünktlichkeit herausgefordert ist. «Man kann aber auch in Frankreich oder Italien auf dem Land wohnen und bekommt dort das Stimmcouvert nicht automatisch rechtzeitig», sagt Rustichelli.
Hier leben die 800’000 Auslandschweizer:innen anteilmässig:
Skeptischer blickt Poltitgeograf Michael Hermann auf das E-Voting. «Ich war eigentlich immer Anhänger des E-Votings, aber ich bin nachdenklicher geworden in den letzten Jahren», sagt er. Dies vor allem nach den Ereignissen nach den letzten Präsidentschaftswahlen in den USA.
Der Politgeograf stellt auch das Wahlrecht der Auslandschweizer:innen ab der dritten oder fünften Generation zur Debatte. Es gebe im Inland ein Defizit bei den politischen Rechten. Dieses könnte durch vermehrtes Einbürgern von Ausländern:innen behoben werden. Da gebe es eine gewisse Entwicklung: Eine Initiative, welche die Einbürgerung von Ausländer:innen in der Schweiz erleichtern soll, ist in Vorbereitung. Für Hermann steht diese durchaus im Zusammenhang mit den politischen Rechten der Auslandschweizer:innen. Denn: «Dann muss man sich umgekehrt natürlich die Frage stellen: Müsste man das Stimmrecht dann im Ausgleich nicht auch beschränken? Auf die dritte Generation beispielsweise von denen, die ausgewandert sind?»
Einiges in Bewegung
Bei der Verteilung der politischen Rechte, bei der Teilnahme an der Schweizer Demokratie, ist das letzte Wort also noch nicht gesprochen. Wer an welchen demokratischen Prozessen teilnehmen kann, variiert bereits auf kantonaler Ebene erheblich. Die folgende Karte zeigt, wie unterschiedlich die verschiedenen Kantone das Stimm- und Wahlrecht der Auslandschweizer:innen auslegen:
Was denken Sie? Diskutieren Sie hier mit:
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch