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Ruth Dreifuss tritt ab

Eine sichtlich gelöste "Landesmutter" bei ihrer Rücktritts-Erklärung. Keystone

Die Innenministerin geht alleine, nicht wie sie ursprünglich wollte zusammen mit Finanzminister Kaspar Villiger.

Rund 10 Jahre war Ruth Dreifuss mit schwierigsten Dossiers konfrontiert: Dem Pensionskassen-System, der Mutterschaftsversicherung und der Krankenversicherung.

Nach wochenlangen Gerüchten und Werweisen der Journalisten gab Ruth Dreifuss am Montag zuerst im Bundesrat und dann vor den Medien ihren Rücktritt bekannt.

«Politik war für mich nie abstrakt», sagte eine sichtlich entspannte Dreifuss im Bundeshaus. Immer habe sie die Menschen gesehen, die von Entscheiden betroffen seien.

Dreifuss würdigte zudem den in der Nacht zuvor verstorbenen Parteikollegen und Vorgänger in der Regierung, Hans Peter Tschudi, den «Vater der Altersversicherung».

Sie wolle seinem Beispiel folgen, und sich auch nach ihrem Rücktritt weiter engagieren, sagte Dreifuss.

Wahlkrimi 1993

Am 10. März 1993 war Ruth Dreifuss als 100. Mitglied in den Bundesrat gewählt worden. Der Wahl ging ein richtiggehender Polit-Krimi voraus. Denn eigentlich hatte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz die Gewerkschafterin Christiane Brunner als offizielle Kandidatin aufgestellt.

Doch die bürgerliche Mehrheit des Parlaments machte der SP am Wahltag vom 3. März 1993 einen gehörigen Strich durch die Rechnung: Statt Brunner wählte sie den Neuenburger Francis Matthey zum Bundesrat.

Die Kompromiss-Kandidatin

Unter Druck der SP-Fraktion verschob dieser seine Erklärung über Annahme oder Nichtannahme der Wahl um eine Woche. Denn die SP bestand auf einer Frau im Bundeshaus. Es wurde ein Nervenkrieg, in dem die Presse alle Möglichkeiten durchspielte. Und Frauen aus der ganzen Schweiz, in Lila gekleidet, demonstrierten vor dem Bundeshaus.

Ein neuer Name tauchte auf: Ruth Dreifuss. Aber erst als die Berner Gewerkschafterin, die in Genf aufgewachsen war, ihre Schriften in Genf hinterlegte, rückte sie plötzlich als valable Kandidatin, weil Frau und welsch, ins Scheinwerferlicht.

Hohe Anforderungen

Schon am 1. April ersetzte sie ihren Parteikollegen René Felber. Vom Christdemokraten Flavio Cotti konnte sie ihr Wunschdepartement übernehmen, das Departement des Innern, das sie bis zu ihrem Rücktritt behalten sollte. Und damit auch eine der grössten Aufgaben im Lande: die Rettung des Sozialstaates Schweiz.

Ruth Dreifuss versuchte vom ersten Tag an, den hohen Anforderungen gerecht zu werden, die an sie gestellt wurden. Sie stürzte sich regelrecht in die Dossiers, wollte jedes Detail kennen.

Schon nach der Schonfrist von 100 Tagen kam daher erste Kritik auf: Sie sei zu perfektionistisch und zu wenig effizient. Delegieren müsse sie erst noch lernen. Ein enger Mitarbeiter fasste zusammen: «Sie sucht nicht den schnellen, sondern den maximalen Entscheid.» Doch auch bürgerliche Politiker attestierten ihr eine schnelle Auffassungsgabe und hohe Kompetenz in Sachfragen.

Offener Umgang

Im Mai 1994 aber machten ihr dieselben Politiker Vorwürfe. Sie habe die AHV nicht im Griff, sie ecke mit ihrem politischen Stil an. Doch genau dieser offene, unkomplizierte Umgang mit der Macht kam beim Volk an.

Kurz darauf machten ihr die explodierenden Kosten im Krankenwesen und das Thema Rentenalter der Frauen das Leben schwer. Doch je mehr Verantwortung auf ihren Schultern lag, desto mehr schien sie den Job zu geniessen. Mit gleichen Prämien für Frau und Mann in der Krankenkasse und der Mutterschaftsversicherung konnte sie Erfolge verbuchen.

1999 wurde Ruth Dreifuss turnusgemäss zur Bundespräsidentin. Die erste Frau, die erste Jüdin als höchste Schweizerin, eine Kinderlose als «Landesmutter», wie viele Zeitungen sie bald bezeichneten. Und auch als Bundespräsidentin fuhr sie wie gewohnt mit dem Bus zur Arbeit.

«Verlorene» Aussenministerin

Bald wurde klar: Die wahren Talente der Innenministerin liegen in der Aussenpolitik. In einem Akt «aus dem Bauch heraus» nahm sie von einem Besuch des mazedonischen Flüchtlingslagers Stenkovac gleich zwanzig Kriegsvertriebene mit in die Schweiz.

Im Flugzeug hätte es schliesslich noch Platz gehabt, begründete Dreifuss ihren Entscheid. Nicht einmal ihre bürgerlichen Bundesratskollegen mochten sie für diese Aktion rüffeln, wie von Parlamentariern lauthals gefordert wurde.

Das Land im Griff?

Getadelt wurde sie dagegen vom chinesischen Premierminister Jiang Zemin, der im März ihres Präsidialjahres der Schweiz einen Staatsbesuch abstattete. «Warum haben Sie denn ihr Land nicht im Griff?», polterte er sichtlich enerviert.

Der Grund: auf dem Bundesplatz hatten Exil-Tibeter und Sympathisanten bei der Ankunft des Spitzenpolitikers lautstark demonstriert. Dieser liess die gesamte Schweizer Regierung stehen und stürmte wutentbrannt ins Bundeshaus.

Als Ruth Dreifuss anschliessend in ihrer Rede vor laufender Kamera dann auch noch das Thema Menschenrechte ansprach, war das Fass voll. Zemin wetterte: «Sie haben einen guten Freund verloren!»

Doch am Ende des Besuches war der Eklat vergessen, Zemin und Dreifuss zufrieden. Ihre Gradlinigkeit und Konsequenz bei diesem Besuch schafften ihr Respekt in weiten Teilen der Bevölkerung.

Seither ist Ruth Dreifuss fast nur noch im Zusammenhang mit ihrem Problemdossier Krankenversicherung in Erscheinung getreten. Im Fall der Beruflichen Vorsorge wurde sie im Sommer 2002 angeschossen. Zu Unrecht, wie bald darauf klar wurde. Betroffen war ein Bundesamt von Ruth Metzler. Das Departement Dreifuss befasst sich nur mit der AHV, der ersten Säule.

swissinfo, Christian Raaflaub

9.1.1940* in St. Gallen
1945 – 1970 Schulen und Universität in Genf
1981 – 1993 Zentral-Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes
10.3.1993 Wahl in den Bundesrat
1.4.1993 Übernahme des Departements des Innern
1998 Vizepräsidentin des Bundesrates
1999 Erste Bundespräsidentin

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