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In den USA gibt es mehr Volksabstimmungen, je ausgeprägter Gerrymandering und die ideologische Kluft sind

Eine Menschenmenge hält bei einer Demonstration Plakate hoch
Demonstration für das Recht auf Abtreibung am 24. Juni 2022 in Phoenix nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA. Arizona wird im November 2024 über das Recht auf Abtreibung abstimmen. Ross D. Franklin / Keystone

Julien Jaquet hat Volksabstimmungen in den USA und der Schweiz verglichen und die beiden Länder zu Sister Republics der direkten Demokratie erklärt. Regelmässige Wahlverlierer:innen greifen zu Volksabstimmungen, hat Jaquet herausgefunden.

In vielen US-Staaten gehören Volksabstimmungen zur Politik.

Politikwissenschaftler Julien Jaquet hat sich in seiner Dissertation mit Volksinitiativen und Referenden in den USA und der Schweiz befasst. Er findet es legitim von den Sister Republics der direkten Demokratie zu sprechen.

Im Interview mit SWI swissinfo.ch spricht Jaquet über Abtreibungsabstimmungen und über die Auswirkung von Gerrymandering und ideologische Verzerrung auf Abstimmungen.

Zudem erklärt er den vielversprechenden Ansatz gegen einen immer polarisierteren US-Kongress, über den drei US-Staaten am 5. November 2024 abstimmen.

SWI swissinfo.ch: Rund 70% der US-Bürger:innen leben in Bundesstaaten und Städten, in denen es die Möglichkeit gibt, Volksinitiativen zu starten. Warum machen dann direktdemokratische Abstimmungen in den USA so selten Schlagzeilen?        

Julien Jaquet: Das trifft vielleicht international zu. Aber eine Person in Kalifornien wird das anders sehen. Dort wird mindestens so oft abgestimmt wie in der Schweiz und die Abstimmungen sind in der Medienöffentlichkeit wichtig.

Nehmen Sie zum Beispiel das Abtreibungsrecht, seit der Oberste Gerichtshof der USA das Urteil Roe vs. Wade aufgehoben hat. Diesen November wird es einen Rekord von elf Abstimmungen über AbtreibungsrechteExterner Link in zehn verschiedenen Bundesstaaten geben. Diese Abstimmungen kommen in den US-Nachrichten.

Zwei Demonstrantinnen, die stehen auf den Stufen des Obersten Gerichtshofs in Washington gegenüber
Demonstrant:innen für und gegen Abtreibung treffen am 26. April 1989 vor dem Obersten Gerichtshof in Washington DC aufeinander. Greg Gibson / AFP

SWI: Kommt es zu diesen Abstimmungen, weil Abtreibungsgegner:innen Unterschriften sammelten – oder Gruppen, die den Zugang zur Abtreibung sicherstellen wollen?

JJ: Das ist unterschiedlich. Aber die Ergebnisse der vergangenen Abtreibungsabstimmungen zeigen einen Trend. Die Bürgerinnen und Bürger haben oft entweder für die Beibehaltung des Abtreibungsrechts oder gegen eine neue Einschränkung gestimmt – sogar in konservativen Staaten.

Das macht Sinn, denn in den USA insgesamt sind jüngsten Umfragen zufolge über 60% der Menschen für eine Form von legalem Recht auf Abtreibung.

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SWI: Die Abstimmungen führen bei diesem Thema also zu Ergebnissen im Sinne der Demokraten. Früher hatten Volksabstimmungen in den USA einen anderen Ruf. 2004 führten elf Bundesstaaten ein Verbot der Eheschliessung für gleichgeschlechtliche Paare am selben Tag ein – eine Entscheidung, die 2015 vom Obersten Gerichtshof gekippt wurde. Damals haben die Republikaner die direkte Demokratie effektiv genutzt.

JJ: Bis heute nutzen beide Parteien die Instrumente der direkten Demokratie vor allem in den Staaten, in denen die jeweils andere Seite das Parlament kontrolliert. Aber in einigen Staaten, die von den Republikanern dominiert werden, versuchen sie seit etwa zehn Jahren, die Praxis von Referenden – beziehungsweise Initiativen – zu erschweren.

Porträt von Julien Jaquet
Jaquet sagt: “Die Schweiz und die USA sind nicht die einzigen Länder, die über Instrumente der direkten Demokratie verfügen, aber sie gehören zu jenen, in denen diese Instrumente am häufigsten genutzt werden.” zVg

SWI: Tun die Demokraten das nicht auch, wenn sie über Abstimmungsergebnisse verärgert sind, in jenen Staaten, die sie dominieren?

JJ: In Kalifornien sind die Demokraten über die sogenannten Recalls verärgert. Ein Recall ermöglicht es einer Gruppe, eine Abstimmung herbeizuführen, um zum Beispiel einen Gouverneur vor dem Ende der Amtszeit abzuwählen. Die Republikaner nutzen in Kalifornien Recalls recht häufig.

SWI: In einer der Fallstudien Ihrer Dissertation haben Sie herausgefunden, dass vor allem Konservative in liberalen Staaten die Instrumente der direkten Demokratie nutzen, wenn sie sich nicht repräsentiert fühlen.               

JJ: Dieses Ergebnis könnte tatsächlich auch damit zusammenhängen, dass es im liberalen Kalifornien so viele Abstimmungen gibt. Das könnte erklären, warum konservative Bürgerinnen und Bürger, die sich zu wenig repräsentiert fühlen, so häufig auf Volksabstimmungen setzen. Es ist auch nötig zu erwähnen, dass manche zusätzliche Analysen dieses Ergebnis nicht bestätigen.

Interessanter ist aber, dass es mehr Volksinitiativen gibt, wann immer sich die Bürgerinnen und Bürger auf zwei Arten unterrepräsentiert fühlen.

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Einerseits gibt es die Wahlverzerrung, die typischerweise auf Gerrymandering, also Wahlkreisgrenzen, die nach den Interessen der dominierenden politischen Kraft geformt worden sind. Wenn dazu andererseits noch eine besonders grosse ideologische Kluft zwischen Abgeordneten und Wahlberechtigten dazukommt, werden mehr Initiativen gestartet.

Das zeigt, dass die direktdemokratischen Rechte für Bürgerinnen und Bürger, die nicht angemessen repräsentiert sind, eine Möglichkeit schaffen, die Repräsentationslücke zu schliessen.

SWI: Die direktdemokratischen Rechte stehen unter dem Verdacht, populistischen Kräften bei der Durchsetzung ihrer Ziele zu helfen. Stimmt das?

JJ: Direktdemokratische Rechte können manchmal herbeiführen, dass die Mehrheit Minderheiten einige ihrer Rechte vorenthält.

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SWI: Die USA sind stark emotional polarisiert. Könnten landesweite Volksabstimmungen möglicherweise dazu beitragen, diese Polarisierung einzudämmen?

JJ: Möglicherweise. Denn die Möglichkeit, die Politik auf andere Weise als nur durch die Wahl von Vertretenden zu beeinflussen, könnte als gerechter empfunden werden. Laut einer Schweizer Studie von Lucas Leemann und Isabelle Stadelmann-SteffenExterner Link sind in den US-Bundesstaaten und den Schweizer Kantonen mit ausgebauteren direktdemokratischen Instrumenten die Unterschiede in der Zufriedenheit zwischen jenen, die die Wahlen gewinnen und jene, die sie verlieren, geringer.

Aber bei der Repräsentation haben die USA noch ein anderes Problem.

SWI: Was meinen Sie?

JJ: In vielen Wahlbezirken entscheiden nur 10 bis 12% der Wählenden, wer dann im US-Kongress sitzt.

SWI: Wie kann das sein?

JJ: Etwa 90% der Bezirke im US-Kongress gelten als unumstritten. In diesen Bezirken entscheidet oft die geschlossene Vorwahl der dominierenden Partei, wer gewählt wird – also nur registrierte Demokraten oder Republikaner. Diese 10 bis 12% Vorwahlwählerinnen und -wähler sind dafür bekannt, dass sie in ihrer politischen Haltung etwas radikaler sind. Politikerinnen und Politiker, die den Ruf haben, Kompromisse mit der anderen Partei zu schliessen, können an dieser Hürde scheitern.

Dies hält viele in der Politik davon ab, über Parteigrenzen hinweg zu verhandeln. Aus Angst, in der alles entscheidenden Vorwahl aus dem Rennen zu fliegen. Wenn Sie sich den Kongress im Laufe des 20. Jahrhunderts ansehen, können Sie den Trend sehen.

Die parteiübergreifende Zusammenarbeit wird weniger. In dem kürzlich erschienenen Buch «The Politics Industry» werden offene Vorwahlen mit Kandidatinnen und Kandidaten aller Parteien, einschliesslich Unabhängigen, gefordert – und die Nutzung von Ranked Choice.

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SWI: Was ist Ranked Choice?

JJ: Im Ranked Choice-Wahlverfahren werden beispielsweise die vier Spitzenkandidatinnen und -kandidaten in einer offenen Vorwahl ermittelt. Die Wählenden können dann bei der Parlamentswahl Kandidierende in eine Rangliste setzen – von bevorzugt bis weniger bevorzugt.

Das macht es weniger attraktiv, einen Wahlkampf zu führen, indem man einen Gegner persönlich angreift. Denn man tritt gegen mehrere von ihnen an und muss nicht nur seine eigene politische Basis ansprechen, sondern die gesamte Bevölkerung. Dies könnte ein interessanter Weg sein, um die Kluft zwischen den Parteien zu überwinden.

SWI: Hat diese Idee denn eine Chance?

JJ: In Alaska, Hawaii und Maine wird bereits per Ranked Choice gewählt. Nevada und zwei weitere Staaten stimmen im November über die Einführung eines Ranked Choice-Systems ab. Da wird also die direkte Demokratie entscheiden.

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Lithografie Inkraftsetzung der Schweizer Bundesverfassung

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Sister Republics: Was die Geschichte der USA und der Schweiz verbindet 

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Einst waren die Schweiz und die USA allgemein als Schwesterrepubliken bekannt. Kürzlich holte Donald Trumps Ex-Botschafter in der Schweiz den Begriff wieder hervor. Tatsächlich haben die beiden Länder gegenseitig geprägt.

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SWI: Lange Zeit waren die USA und die Schweiz bekannt als Schwesterrepubliken, als Sister Republics. Aus heutiger Sicht erscheint es seltsam, dieses kleine Alpenland mit den grossen Vereinigten Staaten zu vergleichen.

JJ: Heutzutage mag das seltsam wirken. Aber wenn wir in die Zeit zurückgehen, in der diese Staaten gegründet wurden, sieht es anders aus: Im 18. Jahrhundert suchten die Verfasser der US-Verfassung nach Modellen für die Gestaltung eines neu entstehenden Staates. Sie liessen sich natürlich von Autoren der Aufklärung inspirieren, darunter die Schweizer Schriftsteller Jean-Jacques Burlamaqui und Emer de Vattel, und zeigten auch Interesse an der alten Eidgenossenschaft.

Die ausgewanderten Schweizerinnen und Schweizer und die nach Europa gereisten US-Gründerväter waren auch Treiber eines regen Austauschs. Wohl bis zum Ersten Weltkrieg konnte man die Schweiz und die USA als Schwesterrepubliken betrachten.

Porträt Julien Jaquet, im Hintergrund eine Stadt
Julien Jaquet ist Politikwissenschaftler und hat sich in seiner Dissertation mit Volksinitiativen und Referenden in den USA und der Schweiz befasst. zVg

SWI: Dennoch trägt Ihre Dissertation den Titel «Sister Republics of Direct Democracy». Hat dieser Titel denn eine faktische Grundlage?

JJ: Im Hinblick auf die direkte Demokratie: Ja.

Die Schweiz und die USA sind nicht die einzigen Länder, die über Instrumente der direkten Demokratie verfügen, aber sie gehören zu jenen, in denen diese Instrumente am häufigsten genutzt werden. Zudem hat sich die Entwicklung der direkten Demokratie in den USA an der schweizerischen orientiert.

Allerdings ist die Idee der direkten Demokratie in den USA älter als die Gründung des Staates: In Neuengland gab es bereits seit dem 17. Jahrhundert eine Art Bürgerversammlung, vergleichbar mit der Landsgemeinde in der Schweiz.

An der Wende zum 20. Jahrhundert setzte sich der Gedanke durch, dass die repräsentative Demokratie ihre Grenzen hat. Die Bürger fühlten sich von ihren gewählten Vertretern manchmal nicht mehr angemessen repräsentiert.

Vor allem im Westen der USA, wo nun heute alle Bundesstaaten über direktdemokratische Instrumente verfügen, wurden viele Vertreter in der Legislative während dieser progressive eraExterner Link als Marionetten starker wirtschaftlicher Interessen wahrgenommen.

Um 1900 waren diese Staaten und ihre Institutionen noch jung. Die progressive Reformbewegung drängte daher darauf, Mechanismen der direkten Demokratie einzuführen, um das Parlament bei Bedarf zu umgehen, nämlich dann, wenn die Repräsentationslücke zwischen Bürgern und Abgeordneten zu gross wird.

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SWI: Also stimmt die Darstellung, dass man mit Volksabstimmungen das Parlament umgehen kann?

JJ: Ein grundlegender Gedanke hinter meiner Dissertation ist, wie sich die Mechanismen der direkten Demokratie und der repräsentativen Demokratie gegenseitig ergänzen.

Einige politische Kommentatoren neigen manchmal dazu, beides als Gegensätze darzustellen. Entweder gewählte Vertreterinnen und Vertreter, die im Namen des Volks handeln, oder eine direkte Demokratie, die die Macht in die Hände der Bürgerinnen und Bürger legt. Die Akteure und Mechanismen der direkten und der repräsentativen Demokratie sind jedoch miteinander verwoben.

In der Schweiz nehmen Regierung und Parlament in der Regel Stellung zu einer Volksinitiative und können diese mit einem Gegenvorschlag beantworten. Die Instrumente der direkten Demokratie sind eine Ergänzung zur repräsentativen Demokratie, kein Ersatz für sie.

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SWI: Wo sind Sie zum ersten Mal auf den Begriff der Sister Republics Schweiz und USA gestossen?

JJ: Ich habe den Begriff im Buch von James Hutson gefunden, welches Sie in einem früheren Artikel zitiert haben. In der Schweiz war es anscheinend ein Bieler Stadtrat, der 1778 in einem Brief an Benjamin Franklin als Erster von den beiden Schwesterrepubliken schrieb.

Bei meinen weiteren Recherchen wurde mir dann klar, wie eng der Begriff mit der Französischen Revolution verknüpft ist. Ab 1789 hat diese den Begriff geprägt: Frankreich wollte Staaten als Schwesterrepubliken um sich scharen – also keine Monarchien, sondern solche mit einer Regierung durch das Volk.

Editiert von Balz Rigendinger

Zur Transparenz: Julien Jaquet arbeitet als Analyst im strategischen Bereich des Westschweizer Rundfunks RTS, welcher wie SWI swissinfo.ch zur SRG gehört.

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