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Demokratiemonitor 2023: Fast 50 Prozent mit der Politik in der Schweiz unzufrieden

Freiheitstrychler steht vor einer Polizeiabsperrung
Ein Gegner der Pandemieindämmungsmassnahmen an einer unbewilligten Demonstration in St. Gallen im Februar 2022. © Keystone / Stringer

Eine repräsentative Befragung mit 6000 Menschen in der Schweiz zeigt Wertschätzung der direkten Demokratie, aber auch Unzufriedenheit und Pessimismus für die Zukunft. Das Vertrauen in die Kompetenz der Schweizer Politik wirkt angeschlagen.

Populistisch sind immer die andern! So könnte man das auffallendste Ergebnis des Demokratiemonitors 2023 von gfs.bern und Pro Futuris verstehen: Von links bis rechts stimmen die Menschen in der Schweiz der Aussage zu, dass “in der Schweizer Politik” diejenigen “am meisten Aufmerksamkeit” erhalten, “die am stärksten provozieren und nicht diejenigen mit den besten politischen Ideen”.

Ähnlich verhält es sich mit der Sorge um politische Polarisierung. So nehmen Anhänger:innen aller politischen Parteien mehrheitlich eine zunehmende Zersplitterung der “Schweizer Gesellschaft (…) in unversöhnliche Klein- und Kleinstgruppen” wahr und sehen es als “immer unmöglicher, übergreifende Mehrheiten für Kompromisse zu finden”.

Besonders hoch ist dieser Anteil mit 70% bei den Wähler:innen der rechtsbürgerlichen Schweizer Volkspartei (SVP), aber auch 64% der Wähler:innen der gemässigten Mitte-Partei stimmen dem zu. Bei der politischen Linken finden dies 59% der Anhänger:innen der sozialdemokratischen SP und 56% der Grünen-Wählenden.

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Für den Demokratiemonitor haben die Demokratie-Denkfabrik Pro Futuris und das Meinungsforschungsinstitut gfs.bern die Haltungen und Perspektiven von 6000 Menschen aus der Schweizer Wohnbevölkerung repräsentativ ausgewertet.

Urs Bieri, Co-Leiter von gfs.bern, nennt den Demokratiemonitor “eine neuartige Bevölkerungsbefragung, die insbesondere auch Erwachsene ohne Schweizer Pass, Jugendliche ab 14 Jahren sowie typischerweise unterrepräsentierte Gruppen mit niedriger formaler Bildung oder Unzufriedene berücksichtigt.”

Der Demokratiemonitor erscheint “mit Blick auf den 175. Jubiläumstag der Bundesverfassung” am 12. September. Eine der Leitfragen ist: Sind wir auf dem richtigen Weg zum 200-Jahre-Jubiläum?

Die Antwort: Jein.

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Zwar besteht breite Zustimmung zu den politischen Rechten in der Schweiz. 85% der Befragten sind zufrieden mit den Teilhabemöglichkeiten in der Schweizer Demokratie. Auch die Einbindung von Minderheiten (81% Zustimmung) und den stark ausgeprägten Föderalismus (71% Zustimmung) schätzt die Bevölkerung.

Das sind die Unzufriedenen in der Schweiz

Diesen positiven Haltungen zum Schweizer Politiksystem entgegen stehen 46%, die generell eher oder sehr unzufrieden mit der Schweizer Politik sind. Diese Unzufriedenen verteilen sich über alle Altersklassen, Bildungsstufen, Sprachregionen und leben sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. In der politischen Haltung gibt es aber Unterschiede.

Insgesamt 10% aller Befragten fühlen sich nicht als Anhänger:in einer Partei. 74% dieser Parteilosen gehören wiederum zu den Unzufriedenen. Bei den SVP-Wähler:innen sind es zwei Drittel; bei jenen der linken SP und Grünen jeweils ein Drittel.

Auch die Unzufriedenen schätzen die politischen Rechte und neun von zehn gaben an, sich für Politik zu interessieren. Doch sie sehen die Schweiz als unfähig, Lösungen zu präsentieren: Vier von fünf halten wenig von der politischen Lösungsfähigkeit der Schweiz.

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Unter den 6000 Befragten finden hingegen 59% die Resultate der Schweizer Politik positiv. Obwohl 71% das Gefühl haben, Populismus sei dominant. Im Hinblick auf die Zukunft überwiegt Pessimismus: 46% der Befragten glauben, die Schweizer Politik könne auf grosse kommende Herausforderungen, wie die Sicherung der Renten oder den Klimawandel, schlecht oder eher schlecht reagieren.

Die soziale Schere, die Macht der Lobbys und Inklusion

67% der Befragten sind mit dem Ausgleich zwischen Reichen und Armen besonders unzufrieden und sehen die Idee von Chancengerechtigkeit nicht als verwirklicht an. Dies sieht eine Mehrheit der Anhänger:innen aller Parteien so – ausser unter jenen der wirtschaftsnahen Freisinnig-demokratischen Partei (FDP) so.

Weiter erkennen die Wählenden von Grünen, SP und SVP einen grossen Einfluss von Lobbyist:innen, Reichen und Wirtschaftskonzernen auf die Politik. 85% der SVP-Anhänger:innen glauben nicht mehr an die Unabhängigkeit der Medien und sehen Journalismus als “Gehilfe der Politik”.

Ein hoher Anteil der Befragten weiss nicht, wie es um die Einbindung von Menschen mit Behinderungen in der Schweizer Politik steht – und nur 42% sind zufrieden mit dem Status Quo der Behinderten-Inklusion.

52% Befragten sind wiederum damit zufrieden, dass Menschen ohne Schweizer Pass in den meisten Kantonen und Gemeinden weder wählen noch abstimmen dürfen. 2022 lag der Ausländer:innenanteil in der der Schweiz bei 26%. Auch die Perspektiven dieser Gruppe in der ständigen Wohnbevölkerung ist in den Demokratiemonitor eingegangen.

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Wenig Optimismus zum Jubiläum der Bundesverfassung

Bei all diesen unterschiedlichen kritischen Einschätzungen des Status Quo gibt es aber weder ein Aufbruchs- noch Sicherheitsgefühl: Nur ein Viertel glaubt, das politische System der Schweiz werde sich auf gute Weise verändern.

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Der Demokratiemonitor 2023 stellt zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung selbst die Frage, ob die Schweiz für die nächsten 25 Jahre auf dem richtigen Weg ist. Im Resultat scheinen die Menschen in der Schweiz mehrheitlich zufrieden, aber langfristig pessimistisch.

Dabei würden das allseits geschätzte Referendums- und Initiativrecht die Möglichkeit bieten, Veränderungen selbst anzustossen.

Auf Demokratie 2050Externer Link können Sie die ganze Studie auf Deutsch lesen.

Editiert von Marc Leutenegger

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