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Die Wahrheit über das Nazi-Gold in der Schweiz

Christophe Farquet

Regelmässig erklären ausländische, aber auch schweizerische Medien, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs einer deutschen Invasion entgangen sei, indem sie dem Nazi-Regime als Bank gedient habe. Für den Historiker Christophe FarquetExterner Link entsprechen diese Behauptungen jedoch nicht den tatsächlichen Begebenheiten.

Es kursiert die These, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs eine Invasion vor allem durch ihre wirtschaftliche Hilfe an Nazi-Deutschland verhindert habe. Besonders die Goldkäufe der Schweizerischen Nationalbank hätten sich als entscheidend erwiesen.

Die Logik der Argumentation: Während des Kriegs war das Dritte Reich sehr gierig auf Rohstoffe, die es für seine Eroberungen benötigte. Es konnte diese aber nicht ausserhalb des Reichsgebiets erwerben, da es nicht über genügend Devisen verfügte. Und das aus den eroberten Ländern geraubte Gold in den Reserven der Reichsbank von seinen Wirtschaftspartnern nicht akzeptiert wurde.

Mit Ausnahme der Schweiz. Für das nationalsozialistische Deutschland sei es daher unerlässlich gewesen, sich für sein Gold Franken zu beschaffen, die auf Drittmärkten ausgegeben werden konnten.

Die unabhängige Eidgenossenschaft mit ihrer frei konvertierbaren Währung wäre somit zu einem unverzichtbaren Bestandteil der nationalsozialistischen Expansionspolitik geworden. Im Folgenden sollen die Grundzüge dieser plakativen und oft leichtfertig vorgetragenen Erzählung erläutert werden.

Eine dünne Beweislage

Zum einen wird bei dieser spekulativen These nicht sorgfältig geprüft, ob die Funktion der Schweiz als Golddrehscheibe tatsächlich eine abschreckende Wirkung auf eine Invasion hatte. Es lässt sich jedoch leicht nachweisen, dass diese Wirkung zumindest relativ war. Die Chronologie belegt dies.

Der Grossteil der Goldkäufe der Schweizerischen Nationalbank begann im Oktober 1941, also lange nach der grossen Bedrohung der Unabhängigkeit der Schweiz im Sommer 1940. Zu jenem Zeitpunkt lieferte die Reichsbank, selbst wenn man die Käufe der Privatbanken berücksichtigt, kein Gold an die Schweiz.

Dass die Eidgenossenschaft unmittelbar nach der Niederlage Frankreichs ihre Souveränität bewahrte, war also nicht auf diese Transaktionen zurückzuführen.

Aber, so könnte man einwenden, da die Gefahr einer Invasion später nicht mehr so akut war, könnte dies nicht gerade auf den Einfluss der Golddrehscheibe Schweiz zurückzuführen sein, die für die Kriegswirtschaft des Dritten Reichs lebenswichtig war? Zwei weitere historische Fakten widerlegen diesen Einwand.

Erstens begann die Serie der systematischen Ankäufe im Herbst 1941 nicht unter dem starken Druck Deutschlands, das angegriffen hätte, wenn die Schweiz sich geweigert hätte. Sondern im Gegenteil auf Wunsch der Schweizerischen Nationalbank, die in diesen Transaktionen ein geldpolitisches Interesse sah.

Zweitens blieben die archivalischen Beweise für eine abschreckende Wirkung dieser Goldpolitik während des ganzen Kriegs sehr dürftig. Im Übrigen konnte niemand nachweisen, dass die Goldkäufe die militärische Strategie Hitlers beeinflusst hätten, der in dieser Frage bekanntlich das letzte Wort hatte.

Ein Tropfen auf den heissen Stein

Andererseits überschätzt diese Theorie den Beitrag der Umwandlung von Gold in Devisen zum Funktionieren der deutschen Kriegswirtschaft erheblich. Sie beruht auf der Darstellung von Rohdaten, die achtzig Jahre später ihre Aussagekraft verloren haben. Wie sah es wirklich aus?

Das Deutsche Reich erwarb während des Kriegs fast zwei Milliarden Schweizer Franken, hauptsächlich durch den oben erwähnten Recyclingmechanismus, aber weniger als die Hälfte davon wurde in Drittländern ausgegeben – und überdies nicht vollständig für den Kauf von strategischen Rohstoffen.

Obwohl die Schweiz während des Kriegs mehr als drei Viertel der Goldlieferungen der Reichsbank an das Ausland erhielt, war dieser Beitrag an die Käufe in Drittländern nur ein Tropfen auf den heissen Stein im Vergleich zu den gewaltigen Warenimporten aus Deutschland während des Kriegs: Er entsprach etwa eineinhalb Prozent der gesamten deutschen Clearingschulden.

Selbst wenn man den Gesamtbeitrag der Schweizer Wirtschaft an das Dritte Reich in Betracht zieht, ist dieser Beitrag weit geringer als derjenige der Länder, die Nazi-Deutschland unterworfen waren.

So zahlte Frankreich zwischen 1940 und 1944 über die Besatzungsentschädigungen und das Clearingdefizit mehr als das Eineinhalbfache seines jährlichen Bruttoinlandprodukts an Deutschland.

Rechnet man die Goldgeschäfte mit der Reichsbank und den von der Eidgenossenschaft gewährten Kompensationskredit hinzu, so ergibt sich höchstens ein dreissigmal geringerer Betrag.

Die Goldlegende widerlegen

Dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg von einer Invasion verschont blieb, war nicht in erster Linie den schändlichen Goldkäufen zu verdanken. Auch konnte die Umwandlung von Gold in Devisen nicht zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor für die Expansion des Dritten Reichs und seines mörderischen Wahns werden. Die Goldlegende ist widerlegt.

Aber sind die hier dargelegten Fakten nur eine von vielen politisch motivierten Meinungen eines neuen Kritikers der Bergier-Kommission? In diesem Fall ist es einfach die Wahrheit über diese Geschichte.

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Die in diesem Artikel geäusserten Meinungen sind ausschliesslich die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Position von SWI swissinfo.ch wider.

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