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Muttersprache fördert Integration

swissinfo.ch

In Bern bieten Stadtbibliotheken Kinderbücher in den wichtigsten Migrantensprachen an. Damit soll die sprachliche Integration gefördert werden.

Immer mehr interkulturelle Bibliotheken in der Schweiz leihen zudem Belletristik in der Herkunftssprache aus und fördern damit das Lesen bei erwachsenen Migranten.

“Die Leistungen der Schweizer Schülerinnen und Schüler sind – im internationalen Vergleich – stark beeinflusst vom Migrations-Hintergrund eines erheblichen Teils der Kinder”. Dies hatte der Zentralpräsident des Schweizer Lehrerverbandes, Beat Zemp, letztes Jahr an der Delegiertenversammlung der Lehrerinnen und Lehrer erklärt. Und weiter: “Das belegt eindeutig das Zahlenmaterial der PISA-Studie.”

Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau, ging sogar noch einen Schritt weiter und sagte nach der Feinauswertung der Pisa-Studie: “In keinem Industrieland haben Kinder aus unteren Schichten so schlechte Chancen wie in der Schweiz.”

Sprachförderung

Dabei, so die Bildungsfachleute, sind Kinder mit Migrations-Hintergrund nicht etwa dümmer als Schweizer Kinder. Sie brauchen aber eine spezielle Sprachförderung.

Die sprachliche Integration von Migrationskindern sei eine wichtige Aufgabe, um sie auch sozial und gesellschaftlich zu integrieren, sagte Christine Eggenberger, Direktorin der Kornhausbibliothek in Bern gegenüber swissinfo.

“Und je höher die Lese- und Schreibkompetenz in der Muttersprache ist, desto leichter lässt sich diese auch in einer weiteren Sprache aneignen”, so Eggenberg weiter. “Deshalb bieten die Quartierbibliotheken von Bern Kinderbücher in neun verschiedenen Sprachen an.”

Das können Bilder- und Kinderbücher aus den Herkunftsgebieten sein. Aber auch Übersetzungen wie Schneewittchen auf Albanisch. Beleibt sind auch Bücher mit zweisprachigem Text: Tamilisch und Deutsch als Beispiel.

Die Ängste, dass mit dieser Lösung Bücher mit fundamentalistischem Inhalt Einzug halten in die Berner- oder Schweizer Bibliotheken, seien berechtigt. Daher würden die Schriften von Experten unter die Lupe genommen.

Auch Eltern fördern

Beim Auswerten der PISA-Studie zeigte sich auch, dass nicht nur der Wortschatz der Kinder gefördert werden sollte, sondern auch derjenige der Eltern. Auch sie können mit Lesen ihre Sprachkompetenz erweitern. Was liegt also näher, als auch ihnen Bücher in der Sprache des Herkunftslandes anbieten?

Das tun immer mehr Bibliotheken in der Schweiz. Zu nennen wären hier die Stadtbibliothek Winterthur oder die Freihandbibliothek St. Gallen als Pioniere. Insgesamt gibt es zur Zeit in de Schweiz 14 interkulturelle Bibliotheken. Sie alle “beziehen” ihre fremdsprachigen Bücher aus Solothurn. Dort befindet sich die Bibliomedia Schweiz, die sich selber die “Bibliothek der Bibliotheken” nennt.

“Wir sind das Warenlager der interkulturellen Bibliotheken in der Schweiz”, sagt Bibliomedia Schweiz-Direktorin Ruth Fassbind. “Wir liefern vom Bilderbuch bis Belletristik alles” und zwar auch in die Romandie und in die italienischsprachige Schweiz.”

Wir lehnen die fremdsprachigen Bücher für ein Zeitlang den Bibliotheken aus und sorgen so dafür, dass diese ein ständig neues Angebot haben. “Nicht die Menge der fremdsprachigen Bücher ist ausschlaggebend, sondern die Rotation”, sagt Fassbind.

Bibliomedia ist auch zuständig für Übersetzungen und zwar aus den Landessprachen in die Migrationssprachen. “Da kann es schon sein, dass die Senioren der Grauen Panther bei uns die fremdsprachigen Texte in ein Bilderbuch kleben”, sagt Fassbind.

Bibliotheken sind Treffpunkte

Durch die neue – multikulturelle – Ausrichtung der Schweizer Stadtbibliotheken ändere sich auch das Erscheinungsbild der Bücherausleihen. “Sie müssen vermehrt in die Öffentlichkeit gehen und nicht auf die Kunden warten, wie das bis anhin der Fall war”, meint Fassbind.

Die Bibliothek müsse zum Treffpunkt werden. Dazu gehöre auch, dass wie etwa in den Niederlanden oder Finnland, die Migranten zusammen mit den Schweizern “ihre” Bibliothek selber führen.

Das zum Beispiel ist in der Berner Kleinstadt Lyss bereits der Fall. Doch aller Anfang ist nicht leicht, wie sie in Lyss sagen. “Wir werden nicht von Migrantenkindern oder –eltern überrannt, aber es werden schon etwa Bücher ausgelehnt”, heisst es nüchtern.

swissinfo und Agenturen

Gemäss OECD ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einem Nicht-Akademiker-Elternhaus ein universitäres Studium macht in der Schweiz so tief, wie in praktisch keinem industrialisierten Land.

Bei der Lesekompetenz der 15-jährigen Schülern rangiert die Schweiz (PISA) bezüglich Leistung im Mittelfeld.

Experten führen diese Ergebnisse von OECD und PISA zurück auf die im internationalen Vergleich hohe Zahl von Migrationskindern (Schweiz: über 20%. Zürich: 42%), die keine der Schweizer Landesprachen als Mutersprache haben.

Bibliotheken in der Schweiz fördern die Sprach- und Lesekompetenz, indem sie den Migranten Kinderbücher und Belletristik in der Herkunftssprache anbieten, weil sprachliche Integration bei der Muttersprache beginne.

Die Berner Quartierbibliotheken bieten Kinderbücher in Albanisch, Arabisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Kroatisch, Portugiesisch, Spanisch, Tamil an.
14 Schweizer Stadtbibliotheken lehnen fremdsprachige Belletristik aus.
Die Bücher werden rotierend von der Bibliomedia Schweiz in Solothurn zur Verfügung gestellt.

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