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POLITIK/US: Obama am Ziel – Historische Gesundheitsreform kommt (Zus)

WASHINGTON (awp international) – Nach höchstem politischen Einsatz und einer historischen Entscheidung ist US-Präsident Barack Obama am Ziel: Für 32 Millionen Amerikaner und damit jeden zehnten Bürger im reichsten Land der Erde hat das Leben ohne Krankenversicherung ein Ende. Das Gesundheitswesen der USA wird generalüberholt. Allerdings war es ein Sieg mit Ach und Krach: Nur mit hauchdünner Mehrheit billigte das Abgeordnetenhaus Obamas zentrales innenpolitisches Projekt. Um die umfassendste Sozialreform seit Jahrzehnten durchzuboxen, musste er sich Forderungen von Abtreibungsgegnern beugen.
Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Anfang 2009 tobte der Kampf zwischen Obamas Demokraten und den Republikanern. Ein Jahr stritten die Parteien mit harten Bandagen und allen Tricks um das Gesetz. Nach fast zwölfstündiger, hitziger Debatte stimmte das Abgeordnetenhaus in der Nacht zu Montag mit nur wenigen Stimmen mehr als notwendig für eine Reform, die ihre Befürworter in einer Reihe mit den US-Bürgerrechtsgesetzen der 60er Jahre sehen. Beinahe hundert Jahre lang waren Präsidenten von Theodore Roosevelt bis Bill Clinton mit der Einführung einer universellen Krankenversicherung gescheitert.
SIEG FÜR DIE VERNUNFT
Obama sprach von einem “Sieg für das amerikanische Volk” und einem “Sieg für die Vernunft”. Aber der Abstimmungserfolg hatte seinen Preis. Um sich die Zustimmung im Repräsentantenhaus zu sichern, musste Obama einer Gruppe konservativer Abgeordneter zusichern, Abtreibungen keinesfalls mit Bundesmitteln zu finanzieren. Allerdings hatte er zuvor auch deutlich gemacht, notfalls seine Präsidentschaft opfern zu wollen, um das Vorhaben zu verwirklichen
Mit der Reform soll erreicht werden, dass künftig 95 Prozent der US-Bürger versichert sind. Derzeit sind es 83 Prozent. Die Kosten für den Staat sind gewaltig: 940 Milliarden Dollar (696 Milliarden Euro) über zehn Jahre. Allerdings soll die Reform zugleich in zehn Jahren das Defizit um 143 Milliarden Dollar verringern.
GRUNDVERSICHERUNG WIRD ZUR PFLICHT
Eine Grundversicherung wird für die allermeisten Amerikaner zur Pflicht. Versicherungen dürfen Bürger mit Erkrankungen nicht mehr abweisen. Den Konzernen ist es auch verboten, weiter Aufschläge wegen des Geschlechts oder des Gesundheitszustandes zu verlangen.
Die Billigung im Abgeordnetenhaus habe bewiesen, dass die Amerikaner in der Lage seien, “grosse Dinge zu tun und sich den grössten Herausforderungen zustellen”, sagte Obama. “Die heutige Abstimmung ist die Antwort auf all die Gebete jedes Amerikaners, der zutiefst hoffte, dass etwas geschieht mit einem Gesundheitssystem, das den Versicherungskonzernen dient, aber nicht den einfachen Bürgern”, sagte der Präsident. “So sieht Wandel aus.” Die nun beschlossene Reform sei nicht radikal, aber doch umfassend. Sie sei “ein weiterer Baustein im Fundament des amerikanischen Traums”.
MERKEL GRATULIERT OBAMA
Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Obama zu seinem Erfolg bei der Gesundheitsreform. Er habe damit ein “zentrales Reformwerk seiner Präsidentschaft” umsetzen können, erklärte sie. Aussenminister Guido Westerwelle sieht Obama nach dem Erfolg in der Innenpolitik nun auch aussenpolitisch gestärkt.
Für den Entwurf des Senats, der im Mittelpunkt der Abstimmung stand, stimmten 219 Abgeordnete – nur drei mehr als nötig. 34 Demokraten stimmten mit “Nein”.
Für ein Begleitpaket mit Änderungen votierten 220 Mitglieder des Repräsentantenhauses. Darüber muss nun noch der Senat abschliessend befinden – voraussichtlich bereits in den nächsten Tagen.
GEFAHR VON STIMMENVERLUSTEN
Obama und die Demokraten mussten nicht nur ihre anfänglichen Pläne verwässern, sie riskieren auch, bei den Kongresswahlen im November Verluste einzufahren. Die Partei und das Weisse Haus setzen hingegen darauf, dass sie mit der Gesundheitsreform ein Gesetz mit konkretem Nutzen für die Menschen in Händen halten und damit punkten können.
Die republikanischen Neinsager bildeten eine geschlossene Front und verstanden es, Ängste und Unsicherheit im Land in eine Protestbewegung umzumünzen – die Geburt der “Tea-Party”. Auf dieser Welle wollen die Republikaner bei den Kongresswahlen reiten.
SKEPTISCHE PARLAMENTARIER
Der Präsident hatte sich in den letzten Tagen noch einmal persönlich in die Zitterpartie eingeschaltet und eine Reise nach Asien und Australien zweimal verschoben. Über das ganze Wochenende bearbeiteten Obama und die Parteispitze der Demokraten skeptische Parlamentarier in den eigenen Reihen, um sie zu einem Ja zu drängen.
Die Wende kam, als eine Gruppe konservativer Demokraten um den Abgeordneten Bart Stupak ihre Ablehnung aufgab. Im Gegenzug musste Obama zusagen, finanzielle Hilfen des Bundes für Abtreibungen per Verordnung ausdrücklich zu untersagen.
Das ist zwar bereits Gesetz. Nun sollen aber “zusätzliche Sicherheiten” verankert werden, dass das auch tatsächlich geschehe und künftig auch nicht geändert werde, hiess es vom Weissen Haus. “Wir haben eine Einigung gefunden, durch die die Unantastbarkeit des Lebens in der Gesundheitsreform respektiert wird”, sagte Stupak.
TUMULTARTIGE SZENEN
Die aufgeheizte Debatte im Repräsentantenhaus war von tumultartigen Szenen begleitet. Vor dem Kapitol demonstrierten lautstark Gegner der Reform. Einige drangen in das Parlamentsgebäude ein und wurden von Sicherheitskräften festgenommen.
Demokraten betonten die historische Tragweite des Gesetzes. “Jeder Präsident des vergangenen Jahrhunderts sagte, dass dies für eine grosse Nation eine Notwendigkeit ist”, sagte der demokratische Mehrheitsführer im Abgeordnetenhaus, Steny Hoyer.
‘HAUSHALTSPOLITISCHER FRANKENSTEIN’
Die konservative Opposition hingegen kritisierte abermals die Kosten der Reform und warnte vor zu grossen Eingriffen des Staates. “Werden wir den Pfad der Freiheit wählen oder den Pfad der Regierungs-Tyrannei?”, fragte der republikanische Abgeordnete Ted Poe. Sein Parteikollege Paul Ryan nannte das Gesetz einen “haushaltspolitischen Frankenstein”.
Ab 2014 sollen Bundesstaaten sogenannte Gesundheitsbörsen einrichten, an der Amerikaner Policen vergleichen und kaufen können. Geringverdiener erhalten als Unterstützung Steuererleichterungen. Eine staatliche Krankenversicherung, wie sie sich vor allem das linke Spektrum der Demokraten gewünscht hatte, wird es jedoch nicht geben./fb/DP/js

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