Freie Meinung: universell, aber nicht absolut
Das Recht auf Meinungsfreiheit ist wohl das weltweit am meisten umstrittene Element der modernen repräsentativen Demokratie. Sie wurde 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formell verankert. In einer wachsenden Anzahl von Ländern ist sie bedroht, und andere loten ihre Grenzen aus. Wir befinden uns an einem kritischen Scheideweg, schreibt die Forscherin Yanina Welp.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris verabschiedet, besagt in Artikel 19Externer Link: «Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.»
SWI #Meinungsfreiheit-Serie
Im Prinzip sollte alles glasklar sein. Sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als auch im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) heisst es in Artikel 19: «Jede und jeder hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut jeder Art zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten, sei es mündlich, schriftlich oder in gedruckter Form, durch Kunst oder durch ein anderes Medium seiner Wahl.»
In Europa bestätigt die Europäische Menschenrechts-Konvention (1950) die Meinungsfreiheit als rechtsverbindliches Recht (Artikel 10). Die Schweiz verankert diese Grundfreiheit in Artikel 16 ihrer Verfassung von 1999.
In der Praxis bleibt jedoch vieles umstritten. Regierungen auf der ganzen Welt schützen das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht, sondern unterminieren es zunehmend. In anderen Teilen der Welt nutzen Einzelne und Gruppen den Begriff «Meinungsfreiheit», um diskriminierende und hasserfüllte Äusserungen zu rechtfertigen. Doch obwohl sie ein universelles Recht ist, ist die Meinungsfreiheit kein absolutes Recht. Sie zu gewährleisten und anzuwenden, ist immer eine Gratwanderung.
In einer neuen Serie befasst sich SWI swissinfo.ch mit diesen verschiedenen Aspekten, Herausforderungen, Meinungen und Entwicklungen rund um die Meinungsfreiheit – sowohl in der Schweiz als auch weltweit.
Wir bieten eine Plattform für Bürgerinnen und Bürger, sich zum Thema zu äussern, bieten Analysen von renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und beleuchten Entwicklungen auf lokaler und globaler Ebene. Und natürlich sind die Leserinnen und Leser eingeladen, sich noch in diesem Frühjahr an der Diskussion zu beteiligen und ihre Stimme zu erheben.
Die Meinungsfreiheit bezieht sich also auf die Fähigkeit eines, einer Einzelnen oder einer Gruppe, ihre Überzeugungen, Gedanken, Ideen und Emotionen zu verschiedenen Themen frei von Zensur auszudrücken.
Aber ist es ein absolutes Recht? Offensichtlich nicht. Ein aktuelles Beispiel war letztes Jahr in der Schweiz zu beobachten, als die Stimmberechtigten anlässlich einer Abstimmung über die Grenzen der Meinungsfreiheit mit 63,1 % zu 36,9 % für ein Gesetz zum Verbot von LGBT-Diskriminierung stimmten. An einer früheren Volksabstimmung im Jahr 1994 wurde bereits entschieden, dass Homophobie ein Verbrechen und keine «Meinungssache» ist.
Yanina Welp ist Research Fellow am Albert Hirschman Centre on Democracy, Graduate Institute (Genf), Redaktionskoordinatorin bei Agenda Pública und Mitbegründerin des Red de Politólogas.
Zwischen 2008 und 2018 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Democracy Studies und Co-Direktorin des Zürcher Lateinamerika-Zentrums (2016-2019), beide an der Universität Zürich.
Inzwischen zeigen verschiedene Quellen und RankingsExterner Link, dass die Schweizer Medien frei von redaktionellen und staatlichen Eingriffen sind. Allerdings wird von ihnen erwartet, dass sie sich an das Strafgesetzbuch halten. Dieses verbietet rassistische oder antisemitische sowie homophobe Äusserungen.
Während der Pandemie kam es jedoch zu einigen Herausforderungen: einerseits von neuen Formen des Negationismus, wie sie von Anti-Wissenschafts- und Anti-Impf-Gruppen verbreitet werden, andererseits von Menschen, die das Gefühl haben, dass die Regierungen «die Pandemie ausnutzen, um mehr Kontrolle und weniger Demokratie einzuführen».
Letztere Behauptung stammt von den Schweizer «Freunden der Verfassung», die im letzten Herbst Unterschriften sammelten, um das «Covid-Gesetz» von 2020 anzufechten, das die Schweizer Regierung und das Parlament zur Bewältigung des Coronavirus ausgearbeitet haben.
Die Abstimmung am 13. Juni wird wahrscheinlich der einzige Fall auf der Welt sein, in dem die Menschen direkt eine verbindliche Entscheidung über die Pandemiebekämpfung ihres Landes treffen können.
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Wer herrscht über die Meinungsfreiheit?
Säule der modernen Demokratie
Wie alle Grund- und Menschenrechte ist die Meinungsfreiheit also ein grundlegendes, aber kein absolutes Recht. Sie ist auch eine Säule der modernen Demokratie.
Dies wird durch den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung anerkannt, der am 15. Dezember 1791 verabschiedet wurde. Er garantiert: «Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt, oder eines, das Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volks einschränkt, sich friedlich zu versammeln und an die Regierung eine Petition zur Beseitigung von Missständen zu richten.»
Zu jener Zeit war ein Hauptziel des Zusatzartikels, wie Thomas Jefferson betonte, «eine Mauer zwischen Kirche und Staat» zu errichten. Doch im Lauf der Zeit wurde die Medien- und Redefreiheit zu einem grundlegenden Bestandteil demokratischer Regierungen, da das Recht auf freie Meinungsäusserung die Offenheit eines politischen Systems zeigt, seine Macht überprüfen zu lassen und zur Rechenschaft gezogen zu werden.
In jüngster Zeit wird die Meinungsfreiheit zunehmend bedroht. Auf der einen Seite gibt es immer mehr Autokraten auf der ganzen Welt, ebenso wie die Verfolgung von unabhängigen Medien und sozialen Aktivistinnen und Aktivisten zunimmt.
Auf der anderen Seite schuf der wachsende Umfang und Einfluss grosser Tech-Unternehmen neue Probleme für bestehende demokratische Systeme. Eine Kombination aus beiden Herausforderungen – autoritär orientierte Führerfiguren und neue Medien – wurde vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump treffend verkörpert.
Der Entscheid von Twitter und Facebook, dessen Konten zu sperren, liess jedoch auch entscheidende Fragen offen: Sollten private Unternehmen für die Kontrolle inakzeptabler Rede zuständig sein? Wo liegen die Grenzen zwischen Hassrede und freier Meinungsäusserung? Führen Medienunternehmen zur Erosion der pluralistischen und unabhängigen Pressefreiheit?
Unter Druck
Im Jahr 2021 gehören mehrere G20-Staaten, darunter Brasilien, Indien und die Türkei, zu den Ländern, in denen die Demokratie abnimmt oder sich in eine Autokratie verwandelt. An der Spitze in diesem zweifelhaften Rennen liegt Polen.
Die Zahlen des in Göteborg ansässigen Instituts Varieties of Democracy (V-Dem) sind beeindruckend: 68% der Weltbevölkerung (87 Länder) leben heute in autokratischen Regimen.
Indien mit seinen 1,37 Milliarden Menschen wurde kürzlich von der «grössten Demokratie der Welt» zur «Wahlautokratie» zurückgestuft. Unter den Faktoren, die zur Herabstufung Indiens führten, waren die wesentlichsten die Bedrohungen der Freiheit der Medien, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft.
Die Zahl der liberalen Demokratien sank dagegen von 41 im Jahr 2010 auf 32 im Jahr 2020. Sie beherbergen nur noch 14% der Weltbevölkerung. Auf Wahldemokratien entfallen 60 Länder und 19% der Weltbevölkerung.
Das Muster, dem aufstrebende Autokratien folgen, wird typischerweise ähnlich beschrieben: «Die herrschenden Regierungen greifen zuerst die Medien und die Zivilgesellschaft an und polarisieren die Gesellschaften, indem sie Gegnerinnen und Gegner verunglimpfen sowie falsche Informationen verbreiten, um dann Wahlen zu untergraben.»
Die Protestbewegung in Hongkong in den Jahren 2018 und 2019 forderte mehr Demokratie. Chinas Antwort waren gewaltsame Unterdrückung und gesetzliche Einschränkungen. Das Mitte 2020 verabschiedete Nationale Sicherheitsgesetz bedeutet, dass sich die Bürgerinnen und Bürger jetzt nicht mehr frei äussern können.
Auch Russland hat mit der Verhaftung und Verurteilung des Oppositionsführers Alexej Nawalny – nach einem gescheiterten Mordversuch – einen repressiven Weg eingeschlagen [Die Schweizer Regierung hat sich internationalen Aufrufen angeschlossen, welche die «sofortige Freilassung» Nawalnys fordern].
Global gesehen steht auch besonders die Meinungsfreiheit unter Druck. Laut V-Dem verzeichneten im vergangenen Jahr 32 Länder erhebliche Verschlechterungen bei dieser demokratischen Säule; vor drei Jahren waren es «nur» 19. Und in der letzten Dekade betrafen acht der zehn am stärksten rückläufigen Demokratie-Indikatoren die Meinungsfreiheit.
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Rechtliche Schwierigkeiten mit Online-Kommentaren in der Schweiz
Illiberaler Populismus: Zeichen der Erschöpfung
Zudem gibt es einen globalen Trend, der mehr Aufmerksamkeit verdient, was den jüngsten Aufstieg von illiberalen populistischen Führern in der ganzen Welt betrifft: Diese Zunahme von Populismus ist ein Symptom – von Erschöpfung.
Die strukturellen Ungleichheiten in vielen Ländern – und vor allem im politischen System der USA – sowie der wachsende Rassismus (als Ventil für die Ungleichheit) waren beispielsweise die Triebkräfte für die Popularität des ehemaligen US-Präsidenten Trump.
Um diesem Entdemokratisierungs-Trend entgegenzuwirken, macht es keinen Sinn, solche Führer und Parteien zu blockieren. Vielmehr muss ihrem Diskurs demokratisch begegnet werden, indem Alternativen über aktive Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie angeboten werden.
Kann ein politisches System weder genügend Sozialhilfe noch Menschenrechts-Schutz bieten, wird ein Diskurs des Hasses die Wählerschaft zu mobilisieren. Dahinter steckt die Unfähigkeit der Führerfiguren und des Systems, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen und zu zeigen, dass die Politik etwas ändern kann.
Wie kann Politik etwas verändern? Indem sie demokratische Teilhabe ermöglicht, indem sie die Bedingungen für die öffentliche Meinungsbildung und die Ausübung der politischen Rechte verbessert. Mit anderen Worten: Es gibt keine Demokratie ohne Meinungsfreiheit.
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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