EWR: Wie die historische Abstimmung nach 30 Jahren in Erinnerung bleibt
Kaum eine Debatte hat so tiefe Gräben durch die Schweiz gezogen, wie die zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Drei, die damals "Ja" gesagt haben, blicken zurück.
Anfang der 1990er-Jahre erfasste die europäische Aufbruchstimmung selbst in der Schweiz manchen Kalten Krieger. So stellte sich der damalige Nationalratspräsident Ulrich Bremi, ein Wirtschaftsliberaler, am 1. August 1991 auf das Rütli, den mythischen Gründungsort der Schweiz, und verkündete: «Sie, liebe Schweizerinnen und Schweizer, blicken heute auf das Rütli, weil Sie wissen wollen, wohin wir aufbrechen. Wohin brechen wir auf? Die Antwort kann nur lauten: Europa.»
Doch, wie sich bald zeigte, sahen das nicht alle so: Die Auseinandersetzung um die Abstimmung zum EWR-Beitritt der Schweiz machte die neuen Bruchlinien spürbar – und vertiefte sie noch.
Der Europäische Wirtschaftsraum EWR ist eine umfassende Freihandelszone, deren Abkommen auch die Zusammenarbeit in den Bereichen Umwelt, Soziales und Forschung geregelt hat. Die Schweiz stritt 13 Monate über den Beitritt, eine aussergewöhnlich lange Zeit.
Am 6. Dezember 1992 stimmten 50,3% der Schweizer:innen gegen den EWR. 78% der Stimmberechtigten gingen an die Urnen – der höchste Wert seit Einführung des Frauenstimmrechts. Viele waren bis zum Schluss unentschieden: Ende November 1992 wussten noch 13% der Stimmwilligen nicht, ob sie ein Ja oder ein Nein einwerfen. Das Schweizer Fernsehen widmete der «Ratlosigkeit vor dem EWR» eine Sendung, in der eine Schweizerin unter anderem schildert, wie sie sich «manipuliert» fühle «von einer Lawine von links und rechts.» Sie höre nicht mehr zu.
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«Der EWR war die spannendste Abstimmung meines Lebens»
In der französischsprachigen Westschweiz erfasste die Zustimmung zum Projekt Europa fast alle. Doch in der Deutschschweiz und im Tessin blieb eine skeptische Stimmung dominant: Insbesondere ländliche und konservative Kreise fürchteten um die Direkte Demokratie und die Neutralität des Landes.
Die Konfliktlinie verlief durch alle Parteien. SWI swissinfo.ch hat mit drei Menschen gesprochen, die damals Ja gestimmt haben. Zwei von ihnen waren 1992 Politiker:innen auf dem nationalen Parkett und sowohl der Grüne Ruedi Baumann als auch die Freisinnige Vreni Spoerry traten in Podiumsdiskussionen immer wieder gegen Parteifreund:innen an. Der heutige Freisinnige Markus Somm war vor 30 Jahren noch ein linker Student.
Vreni Spoerry: Mit dem EWR den EU-Beitritt verhindern
Die damalige Nationalrätin Spoerry erinnert sich, wie sie Abend für Abend anderswo zu einer Debatte antrat. Häufig vor einem Publikum aus Nein-Sagenden, denn das gegnerische Lager habe besser mobilisiert. «Das erstaunliche an diesem Abstimmungskampf war, dass man auch innerhalb von Familien, Freundeskreisen und der Partei komplett gegensätzlicher Meinung war», erinnert sich Vreni Spoerry. Die EWR-Frage schuf Risse, die quer zu den bisherigen Bruchlinien verliefen.
«Sowas habe ich kaum je wieder erlebt.» Laut Spoerry seien viele Falschinformationen zirkuliert. So habe ein Freund etwa vehement behauptet, es gebe Prüfungen und Zugangsbeschränkungen zu allen Studiengängen, wenn die Schweiz dem EWR beitritt.
Am Abend des 6. Dezember 1992 war sie dann froh, als das Ergebnis klar war, erinnert sich Spoerry. Und tatsächlich wirkte Spoerry in der damaligen Abstimmungssendung des Schweizer Fernsehens gefasst: «Das Volk hat entschieden», sagte sie, als die Hochrechnung eindeutig waren, «Wir werden miteinander den schwierigen Weg gehen, den wir jetzt gehen müssen.»
Der Weg mündete in die bilateralen Verträge, mit der die Schweiz ihre Beziehungen zur EU für lange Zeit erfolgreich geregelt hat. Spoerry, auch Verwaltungsrätin der Swissair bis zu deren Grounding, sagt die Schweizer Airline habe die Folgen des EWR-Nein jahrelang «ganz massiv» gespürt. «Sie hatte nicht mehr den freien Himmel über Europa. Sie durfte als einzige nicht mehr mit einer Maschine in London starten, in Paris Passagiere ein- und aussteigen lassen und dann nach Wien weiter.»
Spoerry erzählt, wie sie mal in Finnland eingeladen war, um das EWR-Nein der Schweiz zu erklären. Ein Finne habe ihr gesagt, es sei in der EU schlimmer als unter dem Zaren. Sie habe nie in die EU gewollt, aber glaubte 1992, man brauche den EWR, um nicht in die EU zu müssen.
In Finnland erklärte Spoerry, was sie jetzt auch Swissinfo.ch wieder sagt: Das Verhalten der Schweizer Regierung sei entscheidend gewesen. «Dass Bundesrat Adolf Ogi davon sprach, dass der EWR ein Trainingslager für den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft sei. Dass der Bundesrat kurz vor der Abstimmung ein Beitrittsgesuch einreichte.» Spoerry habe im Abstimmungskampf oft wiederholt: Mancher war im Trainingslager und ist danach nicht an die Olympiade.
Trotzdem war eine Mehrheit dagegen.
Ruedi Baumann: Der europabegeisterte Bauer
«Wann war es? 1992?», sagt Ruedi Baumann, «Das macht 30 Jahre.» Der Abstimmungskampf über den EWR-Beitritt stand am Anfang der nationalen Politkarriere des grünen Biobauers aus dem Kanton Bern, der später Präsident der Grünen Schweiz wurde und nunmehr auch schon seit 20 Jahren einen Bio-Betrieb in Westfrankreich führt. Baumann ist ein grüner Landwirt, der mit seiner Familie «der EU beigetreten ist», wie er sagt.
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«Von Anfang an gab es heftige Auseinandersetzungen in der Fraktion», erinnert er sich an die Zeit nach seiner Wahl in den Nationalrat 1991. Schnell seien die Diskussionen polemisch geworden, so hiess es etwa, dann werde reguliert, wie sehr eine Gurke gekrümmt werden darf.
«Die Reden vom EU-Kommissar, der die Landwirtschaft kaputtmachen und nur noch Riesenbetriebe wie sowjetische Kolchosen erhalten wolle, kannte ich schon aus meiner Lehre als Landwirt», sagt Baumann verschmitzt. In den 1980er-Jahren habe er dann als Praktikant auf einem Landwirtschaftsbetrieb in England und auf Autostoppreisen erlebt, wie andere europäische Länder zusammenarbeiten.
Bis heute ist Baumann klarer EU-Befürworter. «Ich erlebe die EU sei 22 Jahren als Bauer.» Die Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft seien kein Deut schlechter als in der Schweiz. «Vieles, gerade im Bereich Ökologie, ist fortschrittlicher.» Während er gutgelaunt über die Debatten vor 30 Jahren erzählt, wirkt er nun bitterer: «In Frankreich spricht man kaum über die Schweiz – und wenn dann nicht als Vorbild.» Man habe das Bild eines Landes, das einfach profitieren wolle: Bankgeheimnis, Geldwäscherei, Steuerschlupflöcher, russische Oligarchengelder.
Die Grünen haben sich erst durch den EWR zu einer Pro-EU-Partei gewandelt. «Auch weil sie erkannten, dass das Nein zum EWR eine neue Bewegung für den SVP-Miliardär Christoph Blocher schuf.» Während der EWR-Abstimmung herrschte dort Skepsis in der Deutschschweiz. «Bei den Grünen war das Hauptargument gegen die europäische Integration, dass man in der EU gar nicht mitbestimmen kann.» Ist daran denn nichts dran? «Was die Schweiz von ihrer direkten Demokratie abbauen müsste, wäre erst im detaillierten Beitrittsgesuch ausgearbeitet worden. Das wurde nie gemacht – deshalb konnte man irgendwelche fantastischen Sachen behaupten», findet Baumann.
In linksalternativen Kreisen war man nicht aus Abgrenzung skeptisch gegenüber zu viel Nähe zu Europa, sondern weil man «für eine europäische Integration» war, die «demokratischer und sozialer ausgerichtet gewesen wäre», wie es ein Akteur schildert. Immerhin 2% der Abstimmenden wären gar für die EU gewesen, aber nicht für den EWR – laut Nachanalyse. Gemäss dieser stimmten 53% der Grünen-Anhänger:innen für den EWR-Beitritt. Eine Mehrheit, aber eine knappe.
«Unbekannte Männerriegen» in Brüssel würden künftig über Wirtschaft, Soziales und Umwelt entscheiden, schrieb hingegen der Schriftsteller Otto F. Walter einen Monat vor der Abstimmung in der linken «Wochenzeitung». Deren Entscheidungen fielen «endgültig» und «hinter verschlossenen Türen». Bundesrat und Parlament werden «nicht mehr zittern müssen vor dem Einspruch des Volkes», weil sie schlicht nicht mehr zuständig wären. Walter, 1994 verstorben, glaubte, der EWR-Beitritt würde zur «Dominanz der freien Marktkräfte» und dem «Abbau Ihrer Volksrechte» führen.
Markus Somm: Einig mit dem Vater
Insgesamt stimmte aber eine deutliche Mehrheit jener, die sich als links verstanden, dem EWR-Beitritt zu – ebenso wie die grosse Mehrheit jener, die sich der FDP angehörig fühlten.
Für den linken Studenten Markus Somm war es 1992 eine neue Erfahrung, dass er in der EWR-Abstimmung mit seinem Vater Edwin Somm, Geschäftsführer des Industriekonzerns ABB, einer Meinung war. «Bei uns war das Ja zum EWR wichtig. Es war die erste grosse Frage, in der ich mit meinem Vater übereinstimmte.»
Er habe sich an der Seite seines Vaters engagiert: «Ich habe ihn gecoacht und ihm manche Reden geschrieben.» Heute ist Markus Somm ein rechtsbürgerlicher Journalist und Unternehmer. Seine Plattform «Nebelspalter» wird von Unternehmern, die sich gegen den Rahmenvertrag mit der EU engagieren, mitfinanziert.
Vor der EWR-Abstimmung, schildert Somm, habe eine «Tabula-Rasa-Stimmung» geherrscht. «Es war ein hysterisches Gefühl zwischen Panik und Hoffnung: Für die einen sollte nach 1989 alles anders werden – für die anderen am Blocher-Flügel der SVP gab es nur noch die Vergangenheit.» In dieser Situation sei von beiden Seiten «völig überhöht» worden, ob die Schweiz dem EWR zustimmt oder nicht. Im Nachhinein habe man dem Ergebnis dann dadurch noch mehr Symbolkraft verliehen, dass der Bundesrat das EU-Beitrittsgesuch nicht zurückzog. So habe die Regierung der SVP Fahrt verschafft.
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SVP: Gross geworden gegen alle Anderen und die EU
Somm begleitete als Journalist ab Mitte der 1990er-Jahre insbesondere die katholische CVP in ihrer Entwicklung. In vielen ihrer Hochburgen waren die Bedenken gegenüber dem EWR besonders gross. «Die Innerschweiz war sehr patriotisch und konservativ, Leute, die an die Eidgenossenschaft glauben.» Die SVP hat dort in den 1990er-Jahren erst Sektionen gegründet. «Im Kanton Schwyz gab es keine SVP», sagt Somm. Bei den letzten Wahlen legten 36,9% der Schwyzer:innen eine SVP-Liste ein. Auch die FDP, wo Somm Mitglied ist, habe sich von der Auseinandersetzung zu Europa «nicht wirklich erholt» und «einen Teil der Wirtschaftselite» verloren.
Obwohl seine Auswirkungen die Schweizer Politlandschaft nachhaltig geprägt haben, sieht Somm den EWR mittlerweile «als Teil der Geschichte». Mit einem neuen Anlauf zur europäischen Integration sei nicht zu rechnen – und einem Projekt wie dem Rahmenvertrag gibt Somm in einer Volksabstimmung «vielleicht 30%».
Der Anteil der Befürworter:innen eines EU-Beitritts der Schweiz ist tatsächlich auf einem Tiefststand. Trotzdem hat das Verhältnis zur Europäischen Union im Zuge von Stromkrise und Weltlage einen erstaunlich hohen Stellenwert in der Bevölkerung: So ist die «Beziehung zu Europa» auf Platz 4 des Crédit Suisse-Sorgenbarometer 2022, das die drückendsten Themen der Stimmberechtigten in der Schweiz erfasst. Gemäss dem Sorgenbarometer ist ein «Durchbruch» bei den Verhandlungen mit der EU nach dem gescheiterten Rahmenabkommen für 66% der Stimmberechtigten wichtig bis sehr wichtig. Allerdings: Die Mehrheit ist nicht zuversichtlich, dass dieser erhoffte «Durchbruch» auch gelingt.
Editiert von David Eugster
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