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Wie die Schweiz Waffenkult und Sicherheit verbindet

Messebesuchende stehen vor einer Wand, an der Gewehre aufgehängt sind mit Preisschildern
Besucher:innen begutachten Gewehre auf der 29. Internationalen Waffenbörse in Lausanne im Dezember 2023. © Keystone / Laurent Gilliéron

Die Schweiz ist eines der am stärksten bewaffneten Länder der Welt. Sie ist aber auch eines der sichersten Länder, und Schiessereien sind selten. Dieses scheinbare Paradoxon ist auf eine Waffenkultur zurückzuführen, die sich grundlegend von der in den USA unterscheidet. Was ist das Geheimnis?

“Ich habe einen Revolver, eine 64er Smith & Wesson und einen Colt National Match gekauft.” Sébastien lächelt, er ist mit seinen Einkäufen zufrieden. Wir treffen den passionierten Waffensammler und Schützen Anfang Dezember auf der Waffenbörse in Lausanne, wo er Stammgast ist.

Hier kann man die Waffen testen und sie gleich nach Hause nehmen, wenn man über die nötigen Genehmigungen verfügt. Eine Handfeuerwaffe wird im Durchschnitt für mehrere hundert Franken verkauft.

Unsere Videoreportage von der Waffenbörse in Lausanne:

Die Beliebtheit von Waffen ist auf einem Höchststand

In der Schweiz gibt es viele Waffenliebhaber:innen, und die Bereitschaft, sich zu bewaffnen, ist ungebrochen. Mehr noch: Laut den Zahlen, die swissinfo.ch von den 26 Kantonspolizeien zur Verfügung gestellt wurden, wurden 2022 mehr als 45’000 Erwerbsscheine für Feuerwaffen ausgestellt, das höchste Volumen seit 2015.

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Zwischen 2019 und 2022 stieg die Zahl der Bewilligungen um durchschnittlich 10% an. Ein Zuwachs, der schwer zu analysieren ist, da die Anträge für die nötigen Genehmigungen nicht begründet werden müssen.

Einige Analyst:innen haben argumentiert, dass die Verschlechterung des SicherheitsgefühlsExterner Link im Zusammenhang mit dem internationalen geopolitischen Kontext (Pandemie, Krieg in der Ukraine) den Wunsch nach Waffen stimuliert hat.

Laut Marc de Montet, Waffenhändler und Mitglied des Organisationskomitees der Waffenbörse, liegt die wichtigste Erklärung jedoch in der wachsenden Beliebtheit des Schiesssports, einer Disziplin, welche die “grosse Mehrheit der Kaufgründe” ausmacht und “zunehmend auch das weibliche Geschlecht interessiert”.

Frauen machen etwa 15% der 130’000 Mitglieder des Schweizer Schiesssportverbands aus und die Zahl der jungen Schützinnen steigt. Die Zahl der Jäger:innen wiederum wird auf 30’000 geschätzt.

Die Gesetzgebung zum Erwerb von FeuerwaffenExterner Link in der Schweiz ist im internationalen Vergleich eher locker, insbesondere im Vergleich zu den Nachbarländern.

Für den Erwerb ist ein Waffenschein erforderlich, den jede volljährige Person beantragen kann, mit Ausnahme von Personen mit Vorstrafen und Staatsangehörigen aus einigen Ländern, die von den Behörden als sensibel eingestuft werden.

Seit einer Reform im Jahr 2019 ist der Erwerb von halbautomatischen Grosswaffen nur noch für Sportschütz:innen und Sammler:innen möglich. Er bedarf einer Ausnahmegenehmigung.

Die Schweizer Gesetzgebung zum Tragen von WaffenExterner Link ist dagegen viel restriktiver, was einen grossen Unterschied zu den USA darstellt. Das Mitführen einer Waffe im öffentlichen Raum ist nur auf dem Weg zum Jagdgebiet oder zum Schießstand erlaubt, wobei die Munition von der Waffe getrennt sein muss.

Ein Waffentragschein wird nur Personen ausgestellt, die beruflich eine Waffe benötigen oder sich vor einer Gefahr schützen müssen, wobei die einzige Voraussetzung dafür ist, dass die Gefahr “greifbar” sein muss. Die Genehmigung ist an eine Prüfung über den Umgang mit einer Waffe geknüpft.

“Die DNA der Schweiz”

Die Schweiz, ein neutrales Land, das als friedlich gilt, ist dennoch eines der am stärksten bewaffneten Länder der Welt, dies gemäss der in Genf ansässige Organisation Small Arms SurveyExterner Link, welche die massgeblichen Analysen in diesem Bereich erstellt.

Laut ihrer letzten Schätzung aus dem Jahr 2018 waren landesweit mehr als 2,3 Millionen Schusswaffen im Umlauf, wobei die 360’000 Waffen der Strafverfolgungsbehörden nicht mitgerechnet wurden.

Mit fast 28 Waffen in Privatbesitz pro 100 Einwohner:innen steht die Eidgenossenschaft in Westeuropa an vierter Stelle (nach Finnland, Österreich und Norwegen) und weltweit an 14. Stelle. Den Rekord halten bei weitem die USA – mit mehr als 120 Waffen pro 100 Einwohner:innen.

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“Waffen sind ein bisschen die DNA der Schweiz”, fasst der Waffenliebhaber Philippe Aeschlimann zusammen und verweist auf die Milizarmee und die Wehrpflicht.

Die Wehrpflichtigen behalten ihre Ordonnanzwaffen zu Hause und können sie nach der Armee gegen eine geringe Gebühr zurückkaufen, was auch dazu beiträgt, dass viele Schweizer:innen eine Waffe in einem Schrank schlummern haben.

Zwanzigmal weniger Tötungsdelikte als in den USA

Trotz dieser hohen Verfügbarkeit von Waffen wird in der Schweiz relativ wenig mit Schusswaffen getötet. Das Land wirkt dadurch wie ein Paradoxon oder gar ein Vorbild, das im Ausland oft zitiert wird, insbesondere in den USA, wo Waffengewalt ständig Schlagzeilen macht.

Im Jahr 2018 widmete die beliebte Sendung “The Daily ShowExterner Link” dem Thema sogar einen eigenen Beitrag.

Laut Global Health Data ExchangeExterner Link lag die Mordrate durch Schusswaffen im Jahr 2019 bei etwa 0,2 pro 100’000 Einwohner:innen und damit im gleichen Bereich wie bei den europäischen Nachbarn und 20-mal niedriger als in den USA – der weltweite Durchschnitt liegt bei fast 3 pro 100’000. In der Schweiz wurden im vergangenen Jahr bei 11 Morden und 9 MordversuchenExterner Link Schusswaffen eingesetzt.

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Während in den USA Amokläufe, sogenannte “mass shootings”,  jedes Jahr Tausende von Opfern Externer Linkfordern – zuletzt starben Ende Oktober 18 Menschen in Lewiston, Maine –, bleibt die Schweiz von diesem Phänomen weitgehend verschont.

Der letzte Amoklauf von vergleichbarem Ausmass fand 2001 im Parlament von Zug statt. Natürlich kommt es auch in der Schweiz zu Schiessereien, aber sehr punktuell.

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Die Schweiz ist nicht die USA

“Die Annahme, dass der Anteil des Schusswaffenbesitzes in der Bevölkerung die Zahl der Tötungsdelikte durch Schusswaffen bestimmt, stammt aus der Forschung in den USA, ist aber nicht auf Europa übertragbar”, erklärt die Kriminologin Nora MarkwalderExterner Link von der Universität St. Gallen.

Das soziale und politische Gefüge der Länder, insbesondere wenn dort starke Spannungen oder grosse UngleichheitenExterner Link herrschen, spielt eine grosse Rolle. Der europäische und insbesondere der schweizerische Kontext ist mit dem der USA nicht vergleichbar.

Eine Besonderheit in den USA ist, dass viele Menschen dort Schusswaffen zur Selbstverteidigung kaufen oder benutzen, was in der Schweiz nur sehr selten der Fall ist.

In einigen US-Bundesstaaten ist der durch Selbstverteidigung motivierte Einsatz tödlicher Waffen, insbesondere auf Privatgrundstücken, durch die umstrittene “Stand Your Ground”-Gesetzgebung weitgehend geschützt.

Die von uns befragten Fachleute sind sich über die Besonderheit des helvetischen Verhältnisses zu Waffen einig. Es resultiert aus einer Mischung aus Vertrautheit, einer Ausbildung in Sicherheitsmassnahmen, manchmal schon im frühen Kindesalter, und Eigenverantwortung.

Nora Markwalder ist Mitautorin einer im Frühjahr 2023 erschienenen Studie Externer Linküber Tötungsdelikte mit Schusswaffen in fünf europäischen Ländern, darunter die Schweiz. Darin wird Finnland als das Land mit dem ähnlichsten Profil dargestellt – ein Land, das aufgrund seiner tief verwurzelten Jagdtradition ebenfalls stark bewaffnet ist und in dem die Rate der Tötungsdelikte durch Schusswaffen ebenfalls sehr niedrig ist.

Die Untersuchung kommt zm Schluss, dass in den europäischen Ländern die Grösse und Aktivität des kriminellen Milieus die wichtigste Determinante der Gesamtmordrate ist.

Dramen hinter verschlossenen Türen

Aber es gibt aber auch eine dunkle Seite der Schweiz. Im Gegensatz zu anderen untersuchten Ländern ist der Gebrauch von Schusswaffen hier verbreitet und nicht auf das organisierte Verbrechen beschränkt, sagt Nora Markwalder.

Und bestimmte Personengruppen, in erster Linie Frauen, sind stärker gefährdet, Opfer von Schusswaffen-Gewalt zu werden, was bei der allgemein niedrigen Kriminalitätsrate tendenziell unter dem Radar verschwindet.

“Im internationalen Vergleich werden Schusswaffen häufiger im Zusammenhang mit Feminiziden und Familienmorden eingesetzt”, sagt Markwalder.

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Für die Kriminologin ist die Verfügbarkeit von Schusswaffen in der häuslichen Sphäre ein wichtiger Anreiz. “Eine Schusswaffe ist ein viel schnelleres, einfacheres, distanzierteres und tödlicheres Mittel als eine Stichwaffe, bei der man Gewalt anwenden und näher herangehen muss”, erklärt sie.

In mehr als 80% der Fälle, bei denen der Täter seine Partnerin und seine Kinder tötet, bevor er sich selbst umbringt, sind in der Schweiz Schusswaffen im Spiel.

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Darüber hinaus ist vielfach dokumentiert, dass die Verfügbarkeit von Waffen in den Haushalten das Selbstmordrisiko erhöht. Die Schweizer Selbstmordrate durch Schusswaffen ist eine der höchsten der Welt (2,5 pro 100’000), nach Finnland (2,7), wobei die mit Abstand höchste Rate in den USA (7) zu beobachten ist.

Von den 220 Todesfällen durch Schusswaffen in der Schweiz im Jahr 2022 waren 200 Selbstmorde, was in Präventionskreisen seit langem Anlass zur Sorge gibt. “Eine sehr zugängliche Suizidmethode erhöht das Risiko, dass die Tat begangen wird, und eine sehr letale Methode wie die Schusswaffe erhöht das Todesrisiko”, schreibt die Vereinigung Stop Suicide in einem Informationspapier.

Für die grüne Nationalrätin Marionna Schlatter wäre dies ein Grund zu handeln und zu versuchen, Waffen weniger zugänglich zu machen. Sie betont: “Ich ziele natürlich nicht auf den Schiesssport. Aber ich denke, es gibt viele Waffen, die einfach herumliegen, weil sie auf die eine oder andere Weise erworben wurden, und die ein latentes Risiko darstellen. Es ist klar, dass mehr Waffen die Schweiz nicht sicherer machen”, sagt die Politikerin.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Pauline Turuban

Wie sollte der Zugang zu Schusswaffen geregelt sein?

Glauben Sie, dass ein strengerer Zugang zu Schusswaffen zu mehr Sicherheit führt? Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Wohnland gemacht?

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Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger.

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