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“Das WEF dient einer Elite dazu, sich abzugrenzen”

Keystone

Das alljährlich stattfindende World Economic Forum (Wef) in Davos dient den politischen und wirtschaftlichen Leadern dazu, sich als Elite abzugrenzen, sagt die Anthropologin Ellen Hertz.

Die aus Amerika stammende Ellen Hertz ist seit 2007 Dekanin der Fakultät Sprach- und Humanwissenschaften an der Universität Neuenburg. Zu ihren Unterrichts- und Forschungsschwerpunkte gehört namentlich die Wirtschafts-Anthropologie.

Hertz, die sich für die durch Modernisierung (China, Uno, Schweiz) ausgelöste Veränderungen interessiert, forschte namentlich zum Aufbau der Shanghai-Börse und zur Geschichte internationaler Normen zum Schutz indigener Völker.

swissinfo: Hat das WEF in Davos symbolischen Charakter?

Ellen Hertz: Dieses exklusive Treffen zwischen politischen und wirtschaftlichen Kreisen hat extrem starken symbolischen Charakter. Es zeigt, wie wichtig es für die Politiker ist, die Beziehungen zur Wirtschaft zu pflegen und die wirtschaftliche Entwicklung koordiniert zu fördern.

Das Weltsozialforum hat für die Politiker nicht die gleiche Ausstrahlungskraft. Davos zeigt, welch hohen Stellenwert die Wirtschaft für die Politik hat.

Es ist immer wieder von der wirtschaftlichen oder politischen Eliten die Rede. Doch eine Gruppe gilt an und für sich nicht als Elite. Es braucht Mechanismen, die zeigen, wer zur Elite gehört und wer nicht. Vom soziologischen Standpunkt her hat das WEF insbesondere die Funktion, die Zugehörigkeit zu einer äusserst auserwählten Gruppe von Leadern zu markieren. Die Gruppe abzugrenzen.

swissinfo: Könnte sich die Elite mit den heutigen technischen Kommunikations-Mitteln die Reise nach Davos nicht ersparen?

E.H.: Der Aspekt der Selektion ist sehr wichtig. Man kann nicht zu einer Gruppe gehören, wenn sich diese nicht als solche manifestiert. Sich amTelefon auszutauschen hat nicht den gleichen sozialen und symbolischen Stellenwert wie Teil eines Gruppenbildes zu sein, zu den Anwesenden dazuzugehören.

Bei den Staatsgeschäften spielt die Chemie zwischen den Personen eine wichtige Rolle. Lange hiess es, dass die virtuelle Welt die gemeinsamen Treffen vor Ort ersetzen würde. Doch wie es heute aussieht, ist das gar nicht der Fall.

swissinfo: Davos, das sind auch Berge und Ruhe. Inwiefern spielt dieser Aspekt eine Rolle?

E.H.: Die Schweiz hat die Karte des besinnlichen Ortes in den Bergen und des neutralen, prosperierenden und sicheren Landes sehr gut gespielt. Zudem ist man in den Bergen über dem Rest der Welt.

swissinfo: Das alljährliche Treffen in Davos ist für viele Normalbürger eine Art Affront.

E.H.: In Davos zeigt sich das, was eigentlich alle wissen: Die Entscheidungen werden von den Entscheidungsträgern getroffen. In Davos manifestiert sich diese Tatsache lediglich in der Selektivität und im Elitedenken.

Es ist ein sehr unglücklicher Entscheid, Demonstranten den Zugang nach Davos zu verwehren. Dies unterstreicht den elitären und ausschliessenden Aspekt der Veranstaltung.

swissinfo: Davos proklamiert eine gewisse Anzahl von Werten. Können Sie uns einige nennen?

E.H.: Ich würde nicht von Werten sprechen. Jedes Jahr werden unglaubliche Absichtserklärungen gemacht, die praktisch ohne Wirkung bleiben.

Es ist interessant zu sehen, wie lautstarke Aussagen sich die wirtschaftlichen und politischen Führungspersonen in Davos erlauben. Davos ist eine Art geschützte Zone, wo man ganz unverbindlich grosse Visionen proklamieren kann.

Ich sehe in diesem Phänomen etwas viel komplexeres als einfach Scheinheiligkeit. Es ist für Davos von Nutzen – besser diese Absichtserklärungen zirkulieren dort als nirgends.

swissinfo: Aus dem WEF gehen praktisch keine fassbaren Resultate hervor. Weshalb steht der Anlass trotzdem derart im Scheinwerferlicht?

E.H.: Der Kapitalismus basiert nicht nur auf dem ökonomischen, sondern auch auf dem sozialen Kapital, das heisst auf Netzwerken.

Die Entscheidungsträger pflegen freundschaftliche Beziehungen trotz unterschiedlicher Interessen. Das hat für den Normalsterblichen etwas Faszinierendes. Es besteht diesbezüglich eine Art Voyeurismus, der von den Medien sehr kultiviert wird.

swissinfo: Sind sich die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums der Symbolik des Treffens bewusst?

E.H.: Auf jeden Fall. Sie wissen genau, dass sie nicht in Davos sind, um Verträge zu unterzeichnen und Probleme zu lösen, sondern aus symbolischen Gründen. Und vielleicht auch, weil sie teilweise selbst von der Vorstellung des Netzwerks fasziniert sind, an dem sie teilnehmen.

swissinfo: Würde sich das WEF nicht als ethnologisches Studienfeld eignen? Welches wären Ihre Forschungsschwerpunkte?

E.H.: Angesichts der dafür nötigen Bewilligungen wäre die Feldarbeit am Weltwirtschaftsforum an sich bereits ein bemerkenswerter Erfolg. Die Sache wäre sicher interessant, weniger in Bezug auf mögliche konkrete Entscheidungen als in Bezug auf die Fragen, wer in welchem Kontext, was sagt, und was dazu führt, dass gewisse Aussagen lediglich an gewissen Orten und in gewissen Situationen möglich sind.

All das im Detail zu untersuchen und zu schauen, was während den Cocktail-Parties, dem Nachtessen, bei einem Glas Cognac gesagt wird, ist vom ethnologischen Standpunkt aus gesehen sehr spannend. Denn das Gespräch hängt vom jeweiligen sozialen Kontext ab.

Die WEF-Teilnehmer haben jedoch gelernt, dass sie aufpassen müssen, was sie sagen. Die etwas misstrauische und verschlossene Haltung in diesen Kreisen würde die Arbeit des Ethnologen erschweren.

swissinfo-Interview, Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser)

Ellen Hertz studierte Linguistik und Chinesisch an der Yale-Universität und Jura an der Universität von Berkeley.

Sie forschte weiter auf dem Gebiet der Anthropologie, wo sie den Doktortitel erwarb.

Seit 2001 ist sie Professorin am ethnologischen Institut der Universität Neuenburg. Von 2004 bis 2007 hat sie das Institut geleitet.

Seit 2007 ist sie Dekanin der Fakultät Sprach- und Humanwissenschaften .

Zu ihren Unterrichts- und Forschungsschwerpunkten gehören namentlich die ökonomische, juristische und politische Anthropologie.

Slogan: Die Ausgabe 2009 versammelt vom 28. Januar bis 1. Februar über 2500 Teilnehmende aus 96 Ländern. Sie steht unter dem Motto “Shaping the Post-Crisis World” (Die Welt nach der Krise gestalten).

Prominenz: Die bekanntesten unter den erwarteten Persönlichkeiten sind Wladimir Putin, Angela Merkel, die Premierminister Chinas (Wen Jiabao), Japans (Taro Aso) und Grossbritanniens (Gordon Brown), die französischen Minister Bernard Kouchner und Christine Lagarde, UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

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