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Demokratie Schweiz unter Corona – fünf Picks aus den letzten zwei Wochen

Liebe Freundinnen, Experten, Kritikerinnen und Geniesser der Demokratie

Tschüss Parlament, adieu Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Wirtschaftsfreiheit oder persönliche Freiheit: Die Coronakrise ist auch eine akute Demokratiekrise. Hier meine Empfehlungen aus den letzten zwei Wochen. 

Mit meinen besten Grüssen aus Bern

Keystone / Martial Trezzini

Schon seit einem halben Jahr wollte ich über eine Gefahr für die Demokratie Schweiz schreiben, die nur ganz wenige auf dem Radar haben: die soziale Ungerechtigkeit.

Geht es Ihnen auch so: Immer kommt was «Wichtigeres» dazwischen. Und plötzlich war es da, bei uns: Das Coronavirus.

Es hat Klick gemacht bei mir: Jetzt musst du deine Geschichte schreiben! Ich habe mit Flavia Fossati telefoniert, dann mit Oliver Nachtwey. Beides Sozialforschende, sie in Lausanne, er in Basel, beide nur Insidern bekannt. Und beide sagten: Soziale Ungleichheit ist die grösste Gefahr für die Demokratie. Und das schon lange vor Corona.

Jetzt haben wir in Genf eine eineinhalb Kilometer lange Schlange von Menschen gesehen, die für eine Notration Grundnahrungsmittel anstehen.

Etwas passiert gerade in der Schweiz. Nachtwey und Fossati wollen abwenden, dass es noch schlimmer kommt. Oder gar zum «sozialen Meltdown», wie Nachtwey sagte. Damit meint er die Auflösung des Kitts, der die Gesellschaft in der Schweiz zusammenhält.

Keystone / Alessandro Della Valle

Endlich: Nach seiner «freiwilligen Selbstisolation» sind 246 Köpfe wieder auf die Bühne getreten, die vermutlich nicht alle, aber viele schmerzlichst vermisst hatten: Die Nationalrätinnen und Ständeräte.

Man der Corona-Sondersession im Messezentrum in Bern haben sie in drei Tagen Bundeshilfen von 57 Milliarden Franken abgesegnet – Schweizer Rekord! Und das erst noch socially distanced.

Mit ihnen kehrte auch ein heiliges Prinzip der Demokratie zurück: die Gewaltenteilung. Politfreaks – ja, ich bin auch einer – reden auch von «Checks and Balances».

Ehrlich: Haben Sie von Anfang an gemerkt, dass etwas nicht mehr stimmt, nachdem der Bundesrat am 16. März die «ausserordentliche Lage» laut Epidemiengesetz ausgerufen hatte?

Am Sonntag war die Schweiz eine Demokratie, am Montag war sie es nicht mehr. Mir war das nicht sofort klar. Klar ist: Auch wenn das Parlament sein Comeback gegeben hat, die Folgen von Corona für die Demokratie werden die Bewohner noch lange zu spüren sein.

Keystone / Anonymous

Haben Sie gewusst? Die direkte Demokratie in der Schweiz hat ihren Ursprung im Tod. Genauer: in einer Epidemie. Cholera!

Wetten, dass Sie diese Geschichte überraschen wird? Erzählen tut sie Ihnen mein Kollege «Sully» – mit vollem Namen Domhnall O’Sullivan, aber das ist hier allen zu kompliziert.

Im Zürich der 1860er-Jahre ging der schwarze Mann mit der Sense um – eine Cholera-Epidemie raffte fast 500 Menschen dahin. Die meisten Toten stammten aus dem Elend, sprich aus Quartieren der Arbeiterschaft.

Das rächte sich: Die Cholera zerrte ans Licht, dass es in der hehren Stadt Zürich tatsächlich viele Elende gab, die zu wenig zum Leben hatten und zu viel zum Sterben.

Aus Cholera als Gesundheitskrise wurde eine soziale Krise. Daraus erwuchs eine Protestbewegung, die zum Sturz des autokratischen Regimes der Zürcher Elite führte. «Mehr Demokratie», forderten die Menschen.

Stimmenzähler
Dominic Steinmann/Keystone

Hoppla! Der Kanton Thurgau wird von einem Fall von Wahlfälschung erschüttert. Aus dem Apfelkanton Thurgau sei definitiv eine Bananenrepublik geworden, sagt mir meine Auskunftsperson vor Ort.

Bekannt ist der Kanton am Bodensee für seine Zehntausenden von Apfelbäumen. Und als Wohnsitz des mehrfachen Formel-1-Weltmeisters Sebastian Vettel.

Herr Schelling, der mich kontaktiert hatte, lieferte mir gleich auch den Titel meines Berichts über das, was sich am 15. März im Wahlbüro in Frauenfeld, dem Hauptort des Thurgaus, abgespielt haben könnte.

Bei den Wahlen ins Kantonsparlament sei seine Partei, die Grünliberalen, um knapp 6500 Stimmen betrogen worden, informierte er mich.

Thurgau sei der Kanton der kurzen Wege, rühmen politische Lokalfürsten gern. Ich in Bern denke da an Filz und Kungelei. Jetzt ermittelt Stefan Haffter, der Staatsanwalt.

Er hat im Gespräch nicht viel gesagt – laufende Ermittlung. Doch seine Bemerkung zum Schluss lässt aufhorchen.

  1. «Aus der Apfelrepublik Thurgau ist eine Bananenrepublik geworden» – Mein Bericht zur Demokratiekrise im Thurgau.
  2. «Genfer Fall ist nur die Spitze des Eisbergs» – mein Bericht zu einem Fall von Wahlmanipulation in Genf.
  3. Diese Argumente haben das E-Voting in der Schweiz gestoppt – zwei Software-Profis sagten mir, wo die Schwachstellen von E-Voting liegen.
Keystone / Str

Am 8. Mai 1945, vor 75 Jahren, fielen sich die Menschen auf der ganzen Welt um den Hals und sie brachen in Jubel aus: An jenem Tag war der sechsjährige Alptraum des Zweiten Weltkrieges vorbei.

swissinfo.ch gedenkt dem Kriegsende mit einem Bericht über eine Episode, die bis heute kaum bekannt ist: Deutsche Kriegsgefangene, denen die Flucht aus französischen Lagern gelang, suchten im sicherem Hafen Schweiz Zuflucht. Willkommen waren sie nicht. Aber sie wurden besser behandelt als die jüdischen Flüchtlinge, die an der Schweizer Grenze abgewiesen und in den sicheren Tod in den KZs geschickt wurden.

Aber ich wollte Ihnen eine andere Geschichte schmackhaft machen: Der Bundesrat hatte damals die Schweiz per Notrecht durch die Kriegsjahre geführt. Das Parlament hatte sich gewissermassen selbst aufgegeben und war nur noch Staffage. Der Bundesrat hatte die alleinige Macht.

Nach dem 8. Mai 1945 dachten die sieben hohen Herren im Bundeshaus aber nicht im Entferntesten daran, ihre Alleinherrschaft, Vollmachten-Regime genannt, aufzugeben.

Es brauchte die direkte Demokratie, also das Schweizer Volk, um die entgleisten Regierenden wieder auf den Teppich der Demokratie zu holen. Diese war erst 1952 ganz wiederhergestellt, geschlagene sieben Jahre nach dem weltweiten Strassenfest zum Kriegsende.

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