Der Schweizer Film im Jahr 2024: diese Themen dominieren
Zuwanderung und die Einschränkung des transgressiven Aktivismus: Was die 59. Solothurner Filmtage über das Schweizer Filmjahr 2024 verraten – und über die Schweiz selbst.
Wollte man den Beweis für die Behauptung antreten, dass eine nationale Filmkultur in groben Zügen die Stimmung der jeweiligen Nation widerspiegelt, könnte man kaum ein griffigeres Beispiel als die Schweiz finden.
Nicht nur, dass ein grosser Teil des filmischen Schaffens zumindest teilweise staatlich gefördert wird und die Filmschaffenden somit einen Anreiz haben, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die allgemein als relevant gelten.
Nein, der Schweizer Filmkalender sieht auch praktischerweise jedes Jahr eine Woche vor, in der ein Grossteil dieses Schaffens nebeneinander gezeigt wird. Ein Umstand, der den Versuch erleichtert, sich ein Bild davon zu machen, was die Schweiz kulturell bewegt.
Es handelt sich bei dieser Woche um die Solothurner Filmtage, die jedes Jahr im Januar in der gleichnamigen kleinen Stadtd in der Nordwestschweiz stattfinden und deren Schwerpunkt auf Schweizer Filmen liegt, die in den zwölf Monaten zuvor produziert wurden.
Die kollektive Vorstellungskraft der Schweiz
Am 24. Januar ging die 59. Ausgabe des Festivals zu Ende. Und sowohl die Gewinner:innen der begehrten Preise als auch die Themen, die sich aus dem breiteren, typischerweise dokumentarischen Programm ergeben, geben Aufschluss darüber, welche Narrative die Schweiz gerade umtreiben.
Die vielleicht faszinierendste Schlussfolgerung des Festivals 2024 ist, dass das Schweizer Kino um den Sinn zweier unterschiedlicher, aber letztlich miteinander verbundener Diskurse zu ringen scheint: die restriktive Haltung des Landes gegenüber der Einwanderung und die Frage, wo die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Formen des politischen Protests zu ziehen ist.
Ein Beispiel ist der Dokumentarfilm, den das Festival mit dem Prix de Soleure, dem Hauptpreis, ausgezeichnet hat: Lisa Gerigs Die Anhörung zeigt echte Asylbewerber:innen: einen jungen Mann aus dem kriegsgebeutelten Afghanistan, einen ehemaligen Zwangsarbeiter aus Nigeria, einen verfolgten politischen Aktivisten aus Kamerun und eine Transfrau und prominente Kämpferin für LGBTQ+-Rechte in Sri Lanka.
Sie durchlaufen eine simulierte Asylanhörung und erzählen echten Sachbearbeiter:innen des Staatssekretariats für Migration (SEM) ihre Lebensgeschichte.
Gerig übertreibt vielleicht an manchen Stellen und nutzt die inhärente Absurdität der Konstellation gelegentlich mehr für Lacher als für echte Einsichten.
Doch im Grossen und Ganzen ist Die Anhörung ein angemessen bissiger Versuch, die Demütigung des aktuellen SEM-Protokolls greifbar zu machen. Dieses zielt, wie sich herausstellt, darauf ab, die erzählerischen Fähigkeiten der Antragstellenden zu belohnen und ihren Widerwillen zu bestrafen, bestimmte traumatische Erlebnisse in einem halböffentlichen Rahmen zu teilen.
Was The Hearing bei den Zuschauer:innen hinterlässt, ist einerseits ein Gefühl des Zorns über die Herzlosigkeit und Willkür einer wichtigen staatlichen Institution. Anderereits die wohl noch beunruhigendere Erkenntnis, wie sehr das Leben der Migrant:innen in der Schweiz von der Forderung der Öffentlichkeit nach der Rolle des «guten Flüchtlings» geprägt ist.
Echte Bürger:innen
Diese Dynamik ist auch in Luka Popadićs «My Swiss Army» zu spüren, dessen deutscher Originaltitel Echte Schweizer noch viel suggestiver ist.
Der Dokumentarfilm, der in Solothurn den Publikumspreis gewonnen hat, erforscht die multikulturelle und multiethnische Zusammensetzung der Schweizer Armee anhand des Porträts einer Handvoll Offiziere serbischer, tunesischer und srilankischer Herkunft (darunter auch der Regisseur selbst).
Der Film wirft damit Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit auf und hält das Bild der Armee als Integrationsfaktor aufrecht.
Das Thema war jedoch auch ausserhalb der Liste der Preisträger:innen vorherrschend. Mehdi Sahebis Gefangene des Schicksals (siehe Trailer oben, in Farsi, mit deutschen und französischen Untertiteln) begleitet verschiedene iranische Asylbewerber:innen über mehrere Jahre hinweg, während sie sich sowohl mit ihrem unsicheren Einwanderungsstatus als auch mit dem Leben in der Schweiz auseinandersetzen.
In «Motherland» (Mutterland) reflektiert die Regisseurin Miriam Pucitta das Leben ihrer Familie als italienische Gastarbeiter:innen in der Schweiz der 1960er- und 1970er-Jahre.
Auch «Omegäng», die sympathische Untersuchung von Aldo Gugolz über den Zustand der schweizerdeutschen Sprache, berührt das Thema Migration: Der Film zeigt Szenen, in denen eingewanderte Arbeitskräfte den geheimnisvollen Dialekt des Kantons Uri lernen, um sich in die Dorfgemeinschaft einzufügen.
Harte Zeiten, um zu rebellieren
Neben dem allgegenwärtigen Thema der Migration gab es in Solothurn auch eine Reihe von Filmen, die sich mit der Geschichte und dem aktuellen Stand des transgressiven politischen Aktivismus in der Schweiz auseinandersetzten, vor allem im linken, antirassistischen und antifremdenfeindlichen Spektrum.
Dies spiegelt sich auch in der Auswahl der Preisträger:innen des Festivals. In «About Fire» (Autour du feu) von Laura Cazador und Amanda Cortés, der mit dem Jurypreis für den besten Erst- oder Zweitfilm ausgezeichnet wurde, treffen Veteranen der bewaffneten antikapitalistischen Fasel Gang, die zwischen 1977 und 1991 in der Schweiz aktiv war, in einem Kamingespräch auf Vertreter:innen verschiedener heutiger Aktivist:innengruppen, darunter die Umweltbewegung Extinction Rebellion und mehrere antirassistische Kollektive.
Die in Cazadors und Cortés› Dokumentarfilm aufgeworfenen Fragen – die Beweggründe für disruptiven Aktivismus, die Veränderungen in der politischen Landschaft, die vom Staat, von der öffentlichen Meinung und von einem selbst aufgestellten Leitplanken – werden in «La scomparsa di Bruno Breguet» (Das Verschwinden von Bruno Breguet) noch akzentuiert.
Olmo Cerris Porträt des einst umstrittenen, heute vergessenen Schweizer «Terroristen» Bruno Breguet ist durchsetzt mit den Überlegungen des Pazifisten Cerri, dass die Gleichsetzung von Strassenblockaden der Klimaaktivisten mit Terrorismus einer Delegitimierung aller Formen des progressiven Protests gleichkommt.
Wenn Solothurn eine Chance ist, die kulturelle Temperatur in der Schweiz zu messen, muss man sich aber auch eingestehen, dass eine elitäre Institution, die sich mit narrativer Kunst beschäftigt, nicht der Ort ist, an dem man nach Lösungen für die Probleme und Bedingungen sucht, die das Programm aufzeigt.
Angesichts der guten Absichten von Filmen wie «The Hearing», «My Swiss Army» und «About Fire» muss man der Versuchung widerstehen, ihre Bemühungen um schwierige Diskurse – und ihren Erfolg bei der Preisverleihung – damit gleichzusetzen, dass die Schweiz als Ganzes dasselbe tut.
Die Preise sind vergeben, das Rampenlicht des Festivals und seiner Top-Filme ist erloschen. Doch das Schweizer Asylverfahren bleibt für viele ein bürokratischer Alptraum, und der öffentliche Diskurs über akzeptable Formen des Protests ist nach wie vor gefährlich angespannt.
Solothurn hat die Vorlage für einen nationalen Dialog geliefert, aber wird der Rest des Landes diesem Beispiel folgen?
Editiert von Eduardo Simantob und Virginie Mangin/ac; aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch