Die Realität hinter Le Corbusiers indischer Utopie
Ein neuer Film über Chandigarh, die vom Schweizer Stararchitekt Le Corbusier geplante indische Stadt, wirft Fragen zum Kulturimperialismus und zur erforderlichen "Swissness" von Schweizer Dokumentarfilmen auf.
Wie viele Ereignisse der modernen indischen Geschichte beginnt auch die Geschichte der Stadt Chandigarh im Jahr 1947. Das Ende der britischen Herrschaft führte zur Teilung des Subkontinents in das mehrheitlich hinduistische Indien und das überwiegend muslimische Pakistan.
Auf einer der neu gezogenen Grenzen befand sich die ehemalige Provinz Punjab, ihre Hauptstadt Lahore lag auf der pakistanischen Seite.
Da in der Folge das indische Punjab ohne Verwaltungszentrum dastand, entschied Premierminister Jawaharlal Nehru, dass hier ein grosses architektonisches Projekt die wirtschaftlichen und kulturellen Ambitionen des befreiten Indiens zum Ausdruck bringen sollte. Anstatt eine neue Landeshauptstadt zu bestimmen, sollte sie von Grund auf neu gebaut werden.
In Nehrus Worten sollte die Stadt für ein Indien «frei von Traditionen» stehen. Der Mann, der dieses urbane Wunderwerk entwerfen sollte, war der schweizerisch-französische Stararchitekt Charles-Édouard Jeanneret, besser bekannt als Le Corbusier, ein Synonym für den bahnbrechenden und spaltenden Radikalismus moderner Architektur.
Eine wenig bekannte Errungenschaft
Chandigarh, das für 500’000 Personen konzipiert wurde, ist heute eine Stadt mit rund einer Million Einwohner:innen. Als gemeinsame Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab und Haryana weist sie ein BIP pro Kopf auf, das zu den höchsten in Indien zählt.
Architektonisch folgt die Stadt noch immer weitgehend den von Le Corbusier aufgestellten Bauvorschriften. Die berühmteste Ansammlung von Gebäuden, die Verwaltungsgebäude, die den Hauptstadtkomplex bilden, geniessen heute den Status einer Unesco-Weltkulturerbestätte.
Doch ungeachtet seiner Geschichte und der eher prosaischen Bedeutung als Denkmal für die Zusammenarbeit zwischen Indien und einem international bekannten Schweizer Kreativen, ist Chandigarh in Le Corbusiers Heimatland nur wenigen ein Begriff.
Auch die Schweizer Künstlerin, Szenografin und Filmemacherin Karin Bucher wurde nur durch Zufall auf die ungewöhnliche Verbindung aufmerksam.
Als ich sie und ihren langjährigen kreativen Partner Thomas Karrer nach den Ursprüngen ihres neuen Dokumentarfilms «Kraft der Utopie: Leben mit Le Corbusier in Chandigarh» befrage, erzählt sie überschwänglich von jenem Schlüsselmoment.
Es war auf einem Flug nach Bangalore im Jahr 2012, als sie in der Architekturzeitschrift Modulør blätterte und auf «das faszinierendste Foto» stiess. Es war in Chandigarh aufgenommen worden.
Alles begann mit einem Foto
«Es war eine typische indische Strassenszene», erinnert sich Bucher, während der wortkarge Karrer auf der Suche nach dem Bild sein Handy durchforstet. «Eine staubige Strasse, Frauen in Saris, Kinder mit bunten Kleidern auf Fahrrädern. Doch im Hintergrund war dieses riesige Betonbauwerk, das völlig fehl am Platz wirkte.»
«Wie ein Kühlturm», fügt Karrer hinzu, bevor Bucher fortfährt: «Dieser auffällige Kontrast hat mich neugierig gemacht. Ich wollte die Stadt mit meinen eigenen Augen sehen.»
Schliesslich streckt Karrer mir sein Handy entgegen und zeigt mir das besagte Bild. Es ist ein bemerkenswertes Bild, auch wenn die Spuren des Einflusses von Le Corbusier etwas weniger monumental oder auffällig sind, als ich es mir während Buchers Erzählung ausgemalt hatte.
Andererseits passt die Reaktion zum Thema, denn Chandigarh ist im Grunde ein riesiger Rorschach-Test. Die Stadt, die in Indien den Beinamen «City Beautiful» trägt, wurde sowohl als städtebauliches Meisterwerk gefeiert als auch als bizarrer Akt des Kulturimperialismus verurteilt, als Versuch, Indien nur wenige Jahre nach der erfolgreichen Absetzung des britischen Raj westliche Vorstellungen von Fortschritt aufzuzwingen.
Von der Utopie zur Realität
Der Film ist jedoch ebenso wenig daran interessiert, diese alte Debatte neu zu entfachen, wie es Chandigarh – das sich nach seiner Fertigstellung 1953 allmählich einen Namen als liberaler Ort der Kunstschaffenden machte – in den turbulenten Kontext der aktuellen indischen Politik stellen möchte.
Dies sei eine bewusste Entscheidung, sagt Bucher: «Ich würde mir nicht anmassen, von aussen zu kommen und die politische Situation in Indien zu beurteilen.»
Was «Kraft der Utopie» mit seiner Collage aus Archivbildern, Le-Corbusier-Zitaten, Interviews mit lokalen Künstlerinnen, Architekten und Stadtaktivistinnen sowie architektonischen Aufnahmen – die meisten davon ohne Genehmigung auf den vielen Radtouren gemacht, die Karrer und Bucher während ihres achtmonatigen Künstleraufenthalts durch die Stadt unternommen haben – zu erforschen versucht, ist die Beziehung zwischen den utopischen Entwürfen von Chandigarh und seiner Existenz als realer Raum.
Le Corbusier hatte die Stadt als eine menschenförmige Ansammlung von Wohngebieten, öffentlichen Einrichtungen, Parks und Industriegebieten konzipiert, um das Leben in der Stadt «im Einklang mit der Natur» zu fördern und «eine bessere, gerechtere und harmonischere Welt» zu schaffen.
Doch aus Chandigarh, der Idee, wurde schliesslich – nach der tatkräftigen Arbeit von Le Corbusiers Cousin Pierre Jeanneret und einer Vielzahl indischer Architekten, Ingenieure und Bauarbeiter – Chandigarh, die Stadt.
Und sie hat sich entsprechend entwickelt: Die ursprünglichen Stadtsektoren sind zu Indikatoren für das Einkommensniveau geworden; der Grüngürtel, der sie umgibt, begrenzt das Expansionspotenzial und lässt die Lebenshaltungskosten explodieren; und die ursprünglichen Betongebäude zeigen nach Jahrzehnten extremer Hitze und Dutzenden von Monsunperioden allmählich Alterserscheinungen.
Ein anachronistisches Denkmal
Wie der lokale Architekt Siddhartha Wig im Dokumentarfilm sagt, «wird Chandigarh zu einem Museum», zu einem Denkmal für die verehrte Figur Le Corbusier und für die potenziell anachronistischen Träume der europäischen Architektur Mitte des letzten Jahrhunderts.
«In der Konzeption war es utopisch», fügt Wig hinzu. «Ich bin mir nicht so sicher, ob das, was daraus geworden ist, wirklich utopisch ist.»
Dennoch kommt «Kraft der Utopie» zum Schluss, dass Chandigarh in seiner heutigen Form ein Zeugnis für den Erfolg des Experiments ist. «Wir haben einen fremden Meister genommen und ihn zu unserem gemacht», sinniert Wig gegen Ende des Films. Das moderne Chandigarh ist in erster Linie das Werk seiner Bewohnerinnen und Bewohner.
Während eine konventionellere Schweizer Produktion über die Stadt vielleicht ihre «Schweizer Referenzen» betont hätte – sowohl Chandigarh als auch Le Corbusier waren von 1997 bis 2017 auf der Zehn-Franken-Banknote abgebildet –, beschränkt der Film den legendären Architekten durchgehend auf die Ränder der Geschichte: Seine Präsenz ist geisterhaft, nicht bestimmend.
Diese distanzierende Geste mag zum Teil auf seine widersprüchliche Politik und sein oft diskutiertes Engagement in faschistischen Regimen zurückzuführen sein. «Nur Le Corbusier weiss, was Le Corbusier dachte», witzelt Bucher.
Sie könnte aber auch Teil einer zaghaften Abkehr von einigen Marketingüberlegungen sein, die das Dokumentarfilmschaffen in der Schweiz traditionell bestimmen.
Die gängige Meinung lautet, dass Filme sich auf die «Swissness» eines Themas konzentrieren sollten, um relevant genug für die Finanzierung und einen breiten Kinostart zu sein, egal wie schwach sie auch sein mögen.
Und obwohl es in «Kraft der Utopie» ein Echo davon gibt – der sperrige Untertitel ist ein unübersehbarer Hinweis –, widersetzt sich der Film dieser Praxis durch seinen erzählerischen Rahmen auf sanfte Weise.
Wie bei der titelgebenden Stadt selbst mag Le Corbusier der Ausgangspunkt der Geschichte sein. Aber alles andere hängt von den Menschen in Chandigarh ab.
Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob/gw, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
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