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Trotz wachsender Unfruchtbarkeit: Die Schweiz macht wenig für den Zugang zu künstlicher Befruchtung

Eine Frau schaut einen Schwangerschaftstest an
(c) Diego.cervo | Dreamstime.com

Unfruchtbarkeit ist ein globales Problem. In der Schweiz betrifft sie jedes siebte Paar. Der Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung wird hier jedoch durch hohe Kosten und eine der restriktivsten gesetzlichen Regelungen in Europa erschwert.

“Zu erfahren, dass man unfruchtbar ist, ist ein ziemlicher Schlag für die Moral”, sagt Julie Rosset. “Wenn man fast zwei Jahre Zeugungsversuche hinter sich hat, an nichts anderes mehr denken kann, um einen herum Frauen sieht, die mit Leichtigkeit schwanger werden, und weiss, dass man selbst niemals auf natürlichem Wege ein Kind bekommen wird, ist das sehr hart.“

Die 37-jährige Waadtländerin und ihr Partner, bei denen die Diagnose jeweils auf Unfruchtbarkeit lautete, hatten keine andere Wahl, als sich in Lausanne einer In-vitro-Fertilisation (IVF) zu unterziehen. Nur so konnten sie die Freude einer Geburt erleben. Ihre Tochter ist heute 13 Monate alt.

Julie Rosset hat sich entschieden, auf Instagram Externer Linküber diesen “Leidensweg“ zu berichten. Sie wollte so einen Ort der Unterstützung schaffen und dazu beizutragen, das Tabu um diese Krankheit, die noch immer oft mit Scham behaftet ist, zu brechen.

Unfruchtbarkeit wird als das Ausbleiben einer Schwangerschaft nach mindestens einem Jahr ungeschütztem und ausreichend häufigem Geschlechtsverkehr definiert. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHOExterner Link) kann sie jeden und jede treffen, “ohne Diskriminierung“. Fast 18% der Erwachsenen weltweit, etwa jede:r sechste, sind irgendwann in ihrem Leben davon betroffen.

Die Organisation sieht darin ein “grosses Problem der öffentlichen Gesundheit“. Oft werde das “geistige und psychosoziale Wohlbefinden der Betroffenen“ stark beeinträchtigt. Der historische Rückgang der weltweiten Fertilität wird auch zu einer gesellschaftlichen Herausforderung.

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Pandemie der Unfruchtbarkeit

Es gibt keine Daten darüber, wie viele Menschen, die sich ein Kind wünschen, keines bekommen können. Aber es ist bekannt, dass Unfruchtbarkeit eine der häufigsten chronischen Krankheiten bei Menschen im gebärfähigen Alter ist.

Nach Schätzungen der WHO schwankt die Prävalenz in den verschiedenen Regionen der Welt zwischen 10 und 20%. Und sie scheint in Ostasien und Ozeanien besonders hoch zu sein. Es ist ein Gebiet, das einige der Länder mit den niedrigsten Geburtenzahlen wie Südkorea oder Japan umfasst.

In Europa sollen 25 Millionen Menschen betroffen sein. Der Lebensstandard macht kaum einen Unterschied: In den reichsten Ländern sind fast 18% der Erwachsenen betroffen, in den Entwicklungsländern 16,5%.

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Und das Phänomen schreitet stetig voran. Die Unfruchtbarkeit hat seit 1990 weltweit um etwa 15% zugenommen, so die Studie Global Burden of DiseaseExterner Link. Sie gilt als Referenz für die Schätzung der Prävalenz von Krankheiten.

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In der Schweiz schätzen Ärzte und Ärztinnen, dass etwa 15% der PaareExterner Link betroffen sind. Die einzigen genauen Zahlen, die zur Verfügung stehen, sind die Zahlen der Invitro-Fertilisations-BehandlungenExterner Link, die nur einen Bruchteil der Fälle ausmachen.

Jedes Jahr beginnen zwischen 3000 und 4000 Frauen ein Protokoll und 2022 waren es 6600 Frauen, die sich in Behandlung befanden.

Kinder nach 35 Jahren

“Im Allgemeinen geht man davon aus, dass es 30% weibliche Unfruchtbarkeit gibt, 30% männliche Unfruchtbarkeit, 30% bei beiden Partnern und etwa 10%, die unerklärt bleiben“, sagt die Gynäkologin Dorothea Wunder, die sich auf Reproduktionsmedizin spezialisiert hat.

Die Erkrankung des Reproduktionssystems kann verschiedene medizinische Ursachen haben. Laut dem Bundesamt für Gesundheit treten bestimmte Missbildungen oder Krankheiten, die sich direkt auf die Fruchtbarkeit auswirken, wie z. B. Endometriose, immer häufiger auf.

Bei Julie Rosset haben Ärzt:innen eine Ovarialinsuffizienz diagnostiziert. Während ihr Ehepartner, ein gesunder Träger einer Chromosomenanomalie, Probleme mit den Spermien hatte.

Auch Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Stress oder Gewichtsprobleme können die Fruchtbarkeit beeinträchtigen. Ebenso wie die Exposition gegenüber hormonaktiven Stoffen, die in der Umwelt allgegenwärtig sind.

Die wichtigste Erklärung für die Zunahme des Phänomens liegt nach Ansicht der Mediziner:innen jedoch im steigenden Alter, in dem Frauen Kinder gebären. Die weibliche Fruchtbarkeit nimmt ab 35 Jahren signifikant ab und ab 40 Jahren noch stärker.

Innerhalb von 20 Jahren ist das Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes in den OECD-Ländern um fast 3 Jahre gestiegen, von 26 auf fast 29Externer Link Jahre. Die Schweiz, eines der Länder, in denen Kinder am spätesten geboren werden, ist davon besonders betroffen.

Drei Viertel der Frauen, die 2022 in der Schweiz ein Baby bekamen, waren über 30 Jahre altExterner Link. Und mehr als ein Drittel hatte die 35 überschritten. “Das hat eindeutig einen Einfluss“, stellt Dorothea Wunder fest. Und sie ergänzt, dass Frauen in der Schweiz im Durchschnitt mit 37 Jahren eine Invitro-Fertilisation (IVF) in Anspruch nehmen.

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Schulden für den Kinderwunsch

Im Falle einer diagnostizierten Unfruchtbarkeit gibt es medizinische Optionen, und die Qualität der Behandlungen ist in der Schweiz gut, sagt die Gynäkologin. Wenn möglich, schlage man zuerst die “natürlichste“ Methode vor, unter Berücksichtigung ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit.

“Wenn die Untersuchungsergebnisse es zulassen, kann man mit einer Behandlung abseits der IVF beginnen, d. h. mit einer Stimulation der EierstöckeExterner Link und/oder InseminationenExterner Link“, erklärt Dorothea Wunder.

In manchen Fällen, wie bei Julie Rosset und ihrem Partner, ist die IVFExterner Link jedoch die einzige Möglichkeit, die funktionieren kann. Diese Methode ist nicht nur invasiver, sondern auch mit hohen Kosten verbunden, da die Krankenkassen sie in der Schweiz nicht übernehmen.

Die Grundversicherung der Krankenkasse zahlt lediglich die Stimulation und drei Inseminationen während eines Jahres. Es sind Leistungen, die sie im Falle einer weiteren möglichen Schwangerschaft erneuern kann.

Zum Vergleich: In Belgien und Frankreich, die in Europa in diesem Bereich die grosszügigste Politik verfolgen, werden bis zum 43. Lebensjahr der Frau sechs Inseminationen sowie sechs bzw. vier IVF-Versuche bezahlt.

Laut Dorothea Wunder kostet eine Insemination mit Stimulation der Eierstöcke etwa tausend Franken. Für eine IVF sind die Preise variabel und können auf bis zu zehntausend Franken steigen. Bei einer Erfolgsquote von etwa 20%Externer Link ist oft notwendig, das Verfahren zu wiederholen.

Bei Julie Rosset waren zwei IVF und drei Embryotransfers nötig, verbunden mit einer Präimplantationsdiagnostik, die ebenfalls nicht rückerstattet wurde.

“Wir haben über 30’000 Franken ausgegeben, um unsere Tochter zu bekommen“, rechnet sie vor.

Das Paar musste einen Bankkredit aufnehmen, dessen Rückzahlung noch mehrere Jahre dauern wird. “Sonst hätten wir uns das nie leisten können“, sagt die 30-Jährige. “Wir hatten das Glück, dass es geklappt hat, das ist nicht bei allen der Fall. Also hat es sich gelohnt. Aber der Weg der medizinisch unterstützten Fortpflanzung ist schon sehr kompliziert und der finanzielle Aspekt macht es nicht besser.“

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Die Fachärztin Dorothea Wunder, die täglich mit ähnlichen Situationen zu tun hat, stimmt zu: Solche Beträge könnten für manche Menschen “sicherlich ein Hindernis“ sein.

Wie andere Ärzt:innen plädiert sie für eine bessere Kostenübernahme durch die Krankenversicherung. Die gesetzlich vorgeschriebenen Effizienzkriterien seien erfüllt.

Kostenübernahme-Vorstoss scheiterte

Das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) ist für die Festlegung der Behandlungen zuständig, die von der Grundversicherung der Krankenkasse übernommen werden.

Es stützt sich bei seinen Entscheidungen auf die Empfehlungen einer Kommission Externer Linkvon Gesundheitsexpert:innen. Um die Aufnahme einer neuen Leistung in den Katalog zu erwägen, braucht es einen formeller Antrag bei EDI.

Politische Versuche, die künstliche Befruchtung zugänglicher zu machen, haben bislang keine Mehrheit gefunden. So wurde ein Vorstoss Externer Linkdes Parlamentariers Jean-Luc Addor der rechtskonservativen SVP im Jahr 2021 abgelehnt.

Und auf Seiten der Versicherer wird auf die zusätzlichen Kosten hingewiesen, die dem Gesundheitssystem durch jede neu übernommene Leistung entstehen.

“Für die IVF werden diese auf mindestens mehrere zehn Millionen Franken pro Jahr geschätzt“, sagt Christophe Kaempf, Sprecher von Santésuisse, der Organisation, die die Interessen der Krankenkassen vertritt.

Reproduktionstourismus

Es gibt aber auch den Fall, dass die indizierte medizinische Behandlung in der Schweiz schlicht nicht möglich ist. Zwar hat die Politik das Gesetz über die künstliche Befruchtung in den letzten Jahren gelockertExterner Link.

Es ist aber immer noch eines der restriktivsten in Europa und stellt Bedingungen oder verbietet sogar den Einsatz bestimmter Techniken, insbesondere die Eizellspende.

Diese Praxis, die in allen anderen europäischen Ländern ausser Deutschland erlaubt ist, ist die Lösung, wenn die Unfruchtbarkeit von den Keimzellen der Frau herrührt, und weist höhere Erfolgsraten auf als die IVF nach 35 Jahren, da die Spenderinnen jünger sind.

Das Schweizer Parlament hat Ende 2022 einem Text zugestimmt, der die Eizellenspende erlauben soll, aber die Revision wird erst in einigen Jahren in Kraft treten.

Deshalb entscheiden sich nach wie vor viele unfruchtbare Paare für eine Behandlung im Ausland. Wie viele ist nicht bekannt, sagt Dorothea Wunder. Einige Länder wie die Tschechische Republik, Dänemark und vor allem Spanien haben sich auf die Betreuung von Menschen mit Kinderwunsch aus ganz Europa spezialisiert.

Zwei spanische Zentren für Reproduktionsmedizin bestätigten gegenüber swissinfo.ch, dass sie eine wachsende Zahl von Patientinnen aus der Schweiz behandeln.

Die Klinik Vida Fertility in Madrid, die auf eine internationale Patientengruppe ausgerichtet ist, empfängt beispielsweise “zwischen 7 und 10 Schweizer Patientinnen pro Monat mit einem Durchschnittsalter von 41 Jahren“. Hauptsächlich für Eizellspenden, wie die Presseverantwortliche, Karine Gautron, erklärt.

Die Schweiz hinkt hinterher

Strenge Gesetze und hohe Gebühren haben dazu geführt, dass die Schweiz 2021 im Europäischen Atlas der UnfruchtbarkeitsbehandlungspolitikExterner Link schlecht abschneidet. Ein Fachverband unter dem Dach der EU erstellt das Ranking.

Die inzwischen akzeptierte Eizellspende und die Öffnung der Samenspende für verheiratete FrauenpaareExterner Link dürften die Schweiz in Zukunft aber zu anderen Ländern aufschliessen lassen.

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Dorothea Wunder, ehemaliges Mitglied der Nationalen EthikkommissionExterner Link, die Empfehlungen zu bioethischen Fragen abgibt, ist der Ansicht, dass das Gesetz noch nachgebessert werden könnte. So etwa, indem man die Ehe als Voraussetzung für die Samenspende aufhebt.

Ausserhalb der Schweiz setzt sich die Idee durch, dass die Behörden den Kampf gegen Unfruchtbarkeit in ihre Familienpolitik einbeziehen sollten.

Tomas Sobotka, stellvertretender Direktor des Instituts für Demographie in Wien, sagte Anfang des Jahres gegenüber swissinfo.ch, gefragt nach den Gründen des international zu beobachtenden Geburtenrückgangs: “Es ist entscheidend, dass die Menschen, die es nötig haben, Zugang zu Behandlungen gegen Unfruchtbarkeit haben.“

Sobotka, der eine europäische Forschungsgruppe zu Fruchtbarkeit und Familie leitet, betont den Einfluss der Rahmenbedingungen. Er ist der Ansicht, dass “die Regierungen relativ grosszügig sein sollten, indem sie die künstliche Befruchtung unterstützen und subventionieren”.

Mehrere Regierungen, die über die niedrigen Fertilitätsraten erschrocken sind, scheinen sich in diese Richtung zu bewegen.

Japan hatte beispielsweise entschieden, ab 2022 verschiedene Techniken der assistierten Reproduktionsmedizin via die staatliche Krankenversicherung zu bezahlenExterner Link. So wie dies auch mehrere chinesische StädteExterner Link und kanadische ProvinzenExterner Link getan haben.

Im Januar kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron einen nationalen Plan zur Bekämpfung der UnfruchtbarkeitExterner Link an, der den Zugang zur künstlichen Befruchtung erweitern, die psychologische Betreuung verbessern und das Bewusstsein für Fruchtbarkeitsfragen schärfen soll.

Das Grundrecht auf Familienbildung

Doch, auch wenn die Inanspruchnahme der assistierten Reproduktionsmedizin steigt: Noch immer verzichten viele Paareauf die Behandlung und finden sich mit einer Zukunft ohne Kinder ab.

“Die hohen Kosten der Behandlungen machen sie für die meisten Menschen unerschwinglich, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen“, fasst eine Studie Externer Linkzusammen, die Anfang des Jahres in der Zeitschrift Human Reproduction UpdateExterner Link erschienen ist.

“Der Zugang zu Fruchtbarkeitsbehandlungen“, so die Schlussfolgerung, “ist eine grosse Herausforderung, die das Grundrecht auf Familiengründung unverhältnismäsig stark beeinträchtigt“.

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger.

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