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Warum die Schweiz ausländische Arbeitskräfte braucht

Der Fachkräftemangel ist erst der Anfang

Arbeiter auf einer Grossbaustelle
Das Bevölkerungswachstum und die Verkleinerung der Haushaltsgrösse werden den Bau zusätzlicher Wohnungen erforderlich machen und die Baubranche ankurbeln. Keystone / Sven Hoppe

Wie die meisten modernen Volkswirtschaften ist auch die Schweiz mit einem historischen Arbeitskräftemangel konfrontiert. Die Alterung der Bevölkerung und die sich wandelnden Lebensweisen werden den Arbeitsmarkt grundlegend verändern.

Ende letzten Jahres waren in der Schweiz über 120’000 Stellen unbesetzt, so viele wie seit 2003 nicht mehr. Das geht aus den Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) hervor.

Es gibt zahlreiche offene Jobs in unterschiedlichen Branchen; in der verarbeitenden Industrie, im Gesundheitswesen, Gastgewerbe, in der Informatik und im Baugewerbe.

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Bestimmte Schlüsselkompetenzen, die jährlich in einem von Adecco erstellten IndexExterner Link aufgeführt werden, sind besonders schwer zu rekrutieren.

Zusätzlich wird der Bedarf an Arbeitnehmer:innen durch die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren verschärft: Laut dem Staatssekretariat für WirtschaftExterner Link (Seco) lag diese im Jahr 2022 bei 2,2%, was Vollbeschäftigung bedeutet.

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Das Phänomen ist nicht auf die Schweiz beschränkt: Drei von vier Unternehmen berichten in der von Manpower durchgeführten, internationalen Umfrage zum Fachkräftemangel 2022Externer Link von Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung.

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Mit einem Anteil von 74% bewegt sich die Schweiz laut dieser Umfrage im weltweiten Durchschnitt. Besonders prekär ist die Situation in Taiwan, Portugal, Singapur, China und Indien.

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Die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten im OECD-Raum und in der Eurozone sind ebenfalls auf einem historischen TiefstandExterner Link, auch wenn es zwischen den Ländern grössere Unterschiede gibt. Aber zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die globale Wirtschaft schon lange nicht mehr so viele Arbeitskräfte benötigt hat wie aktuell.

Die Babyboomer-Lücke

Die starke wirtschaftliche Erholung nach der Covid-19-Pandemie kurbelte den Bedarf der Unternehmen an Personal an. Doch die aktuellen Engpässe sind vor allem auf strukturelle Faktoren zurückzuführen und Vorboten für noch grössere Umwälzungen.

“Fast alle Industrieländer haben mit der demografischen Alterung zu kämpfen”, sagt Philippe WannerExterner Link, Professor am Institut für Demografie und Sozioökonomie der Universität Genf.

Die Geburtenrate liegt seit langem deutlich unter dem Schwellenwert von 2,1 Kindern pro Frau, der den Ersatz der Elterngeneration garantieren würde. Sogar in China hat die Bevölkerungszahl 2022 zum ersten Mal seit 60 Jahren abgenommenExterner Link.

Gleichzeitig gehen viele “Babyboomer” in Rente, also all jene Menschen, die aus dem Geburtenboom zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren stammen. Dieser Trend dürfte 2030 seinen Höhepunkt erreichen und eine nur schwer zu füllende Lücke hinterlassen.

Das Problem ist in bestimmten Berufen wie der Allgemeinmedizin besonders akut. In der Schweiz reicht der Nachwuchs an jungen Arbeitnehmer:innen schon jetzt nicht mehr aus, um die Abgänge in den Ruhestand zu kompensieren.

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Laut Expert:innen kann diese Entwicklung nicht mit einer Erhöhung der Geburtenzahlen gestoppt werden. “Das Problem ist, dass in kapitalistischen Staaten wie der Schweiz eine Grossfamilie nur schwer mit der Berufstätigkeit beider Elternteile vereinbar ist”, sagt Wanner. Nur eine grosszügige Familienpolitik nach dem Vorbild skandinavischer LänderExterner Link könne auf längere Sicht eine Anreizwirkung haben.

Er sieht zwei Ansätze, um den Fachkräftemangel kurzfristiger zu beheben. Erstens könnten bestimmte unterbeschäftigte Bevölkerungsgruppen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. In der Schweiz wären dies zuallererst Frauen, vor allem die weniger qualifizierten, sowie Personen, die Asyl beantragen.

Zweitens könnte die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte weiter gefördert werden. Die Schweiz hat diesen Weg seit 2002 mit der Einführung der Personenfreizügigkeit konsequent beschritten. Innerhalb von 20 Jahren ist die Bevölkerung der Schweiz um 20% gewachsen und wird in diesem Jahr neun Millionen Menschen erreichen.

Es ist ein rasantes Bevölkerungswachstum, das in Europa seinesgleichen sucht und grösstenteils auf die starke Zuwanderung zurückzuführen ist. Heute sind rund 30% der in der Schweiz lebenden Menschen nicht in der Schweiz geboren.

Doch wie stark kann die Schweiz noch wachsen? Die Tatsache, dass es noch nie so viele offene Stellen gab, ist ein starkes Indiz dafür, dass der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte einem realen wirtschaftlichen Bedarf entspricht.

Da aber die Frage der Zuwanderung die Infrastruktur, den Wohnungsmarkt und vor allem den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz betrifft, ist sie hochpolitisch und könnte zu einem der grossen Themen im Wahljahr 2023 werden.

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Der Bedarf an Fachkräften aus dem Ausland bedeutet auch, dass die Volkswirtschaften attraktiv bleiben müssen. Bislang ist die Schweiz dank hoher Löhne und vorteilhafter Arbeits- und Lebensbedingungen sehr beliebt.

Doch der globale Arbeitskräftemangel dürfte den Wettbewerb zwischen den Ländern verschärfen und könnte die Karten neu mischen.

Unternehmen weltweit suchen nach immer spezialisierteren Profilen, sagt Wanner. “Deshalb gibt es keine Garantie, dass es der Schweiz auf Dauer gelingt, ihre Attraktivität für diese berufliche Elite aufrechtzuerhalten.”

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Für Wanner hat die Zeit des “demografischen Feilschens” bereits begonnen. So kehrt beispielsweise die junge portugiesische Diaspora aufgrund besserer wirtschaftlicher Bedingungen und einer seit 2019 von Lissabon betriebenen Anreizpolitik zur “Repatriierung”Externer Link in Massen in ihre Heimat zurück.

“Der Mensch bleibt unersetzlich”

Die globalen Volkswirtschaften stehen aber nicht nur vor quantitativen, sondern auch vor qualitativen Herausforderungen. Die Umkehrung der Alterspyramide erfolgt “in einer Zeit beeindruckender Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt”, so Wanner.

Die Tertiarisierung und Spezialisierung nimmt zu, was dazu führt, dass einige Jobs, besonders in der Industrie, verschwinden und neue entstehen, etwa im Technologiebereich.

Diese Veränderungen werden in der Zukunft sicherlich noch markanter sein, mit den neuen Entwicklungen in der Robotik und künstlichen Intelligenz.

Wanner glaubt jedoch nur mässig an das Potenzial dieser neuen Maschinen, den Menschen zu ersetzen. “Der menschliche Faktor ist und bleibt in vielen Branchen wichtig. Wir haben noch keine Roboter erfunden, die etwa Strassen bauen können.”

Während den letzten 20 Jahren habe die Schweiz stark auf Arbeitskräfte aus Europa gesetzt, um die niedrig qualifizierten Stellen zu besetzen, die Schweizer:innen nicht wollten, sagt Wanner.

“Da aber das Bildungsniveau in Europa allmählich ansteigt, wird es immer notwendiger werden, niedrig qualifizierte Fachkräfte ausserhalb der EU zu suchen”, prognostiziert der Demograf.

Die Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern ist in der Schweiz jedoch nur für Hochqualifizierte möglich. “Das könnte in Zukunft ein Problem werden”, so Wanner. Momentan sei fraglich, ob die Politik in den kommenden Jahren Lockerungen beschliessen wird oder nicht.

Unter dem Strich sei klar, dass bestimmte Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt direkt von der demografischen Entwicklung beeinflusst werden, so der Experte.

Zum Beispiel machen das Bevölkerungswachstum und die Verkleinerung der Haushalte den Bau von mehr Wohnungen erforderlich, wodurch die Baubranche angekurbelt wird.

Ebenso führt die Alterung der Gesellschaft und die Tatsache, dass mehr Frauen arbeiten, zu einem erhöhten Bedarf an Arbeitskräften in Dienstleistungs- und Pflegeberufen.

Es sei sehr schwierig, die künftige Nachfrage zu planen, zumal einige Berufe noch gar nicht existierten. “Man müsste wissen, was die Wirtschaft in zehn Jahren benötigt, um bereits heute die Lehrgänge entsprechend auszurichten”, sagt der Demograf.

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Samuel Jaberg

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Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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