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Warum das Urteil des Sondergerichts für den Libanon nur wenig Klarheit bringt

attentat hariri
Am 14. Februar 2005 evakuierten Soldaten der libanesischen Streitkräfte einen Verletzten, der nach dem Lieferwagenbombenanschlag auf den Autokonvoi, der den ehemaligen Premierminister Rafik Hariri nach Beirut begleitete, verletzt worden war. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved.

Nach dem Anschlag vom 14. Februar 2005 im Herzen Beiruts, bei dem der damalige Premierminister Rafik Hariri und 21 weitere Personen ums Leben kamen, wurde ein Sondertribunal eingerichtet. Dieses hat nun nur eine einzige Person verurteilt. Ein Gespräch mit dem Schweizer Robert Roth, der zwischen 2011 und 2013 Sondertribunal-Richter war.

Zwischen Voruntersuchungen und Gerichtsverfahren hat der Sondergerichtshof bereits fast 1 Milliarde Dollar ausgegeben. Das ist viel für einen Prozess, der 6 Jahre dauerte und in dem nur eine Person, das Hisbollah-Mitglied Salim Ayyash, verurteilt wurde.

Um dieses offensichtliche Missverhältnis zu verstehen, und was dies über die internationale Justiz aussagt, die vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten unterstützt wirdExterner Link, traf SWI swissinfo.ch den angesehenen Schweizer Spezialisten für Strafrecht und internationale Justiz, Robert Roth. Dieser war von 2011 bis 2013 einer der Richter des Sondergerichtshofs für den Libanon, bevor er wegen einer Reihe von persönlichen Angriffen, die auf sein Jüdisch-Sein abzielten, zurücktrat.

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SWI swissinfo.ch: Waren Sie von dem Urteil überrascht, zumal nur einer der vier Angeklagten verurteilt wurde?

Robert Roth: Zwei der drei Freigesprochenen wurden beschuldigt, eine Verantwortung einer unbekannten dschihadistischen Gruppe für den Anschlag vorgegaukelt zu haben. Die Richter waren aber der Meinung, dass sich dieser Vorwurf nicht belegen lasse. Es gab jedoch genügend Beweise, um einen Mann für seine Beteiligung an der Organisation des Angriffs zu verurteilen.

Frustrierend ist, dass die Geldgeber nicht verurteilt wurden. Aber das war schon seit mehreren Jahren vorhersehbar. Das Sondertribunal machte im Urteil klar, dass es nicht genügende Beweise für eine Beteiligung des syrischen Regimes oder der Hisbollah-Führung gebe. Es ist wichtig, dass die Richter das gesagt haben. 

Rafik Hariri, Premierminister bis zu seinem Rücktritt im Oktober 2004, wurde am 14. Februar 2005 getötet, als ein Selbstmordattentäter einen mit Sprengstoff beladenen Lieferwagen neben Hariris Konvoi in die Luft sprengte. Dabei wurden 21 Menschen getötet und 226 verletzt.

Hariris Ermordung, an dessen Beteiligung zunächst vier pro-syrische libanesische Generäle beschuldigt wurden, löste eine Welle von Demonstrationen im Libanon aus. Diese führten zum Abzug der syrischen Truppen – nach fast 30 Jahren Präsenz im Libanon seit Beginn des Bürgerkriegs (1975-1990).

Das Selbstmordattentat löste auch eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft aus. Im April 2005 gestattete der UN-Sicherheitsrat die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zur Untersuchung des Angriffs und seiner Umstände.

Nach vielen Wendungen wurde das Sondertribunal für den LibanonExterner Link (Link in Englisch) am 30. Mai 2007 eingerichtet. Er öffnete seine Türen am 1. März 2009 in Den Haag, Niederlande. Der Prozess im Fall HaririExterner Link begann im Januar 2014. Bereits 2005 ist eine Reihe von Angeklagten gestorben oder verschwunden.

Ursprünglich richteten sich die Vorwürfe jedoch an viel wichtigere Akteure.

Es gab drei aufeinanderfolgende Ermittler, von denen der letzte Generalstaatsanwalt des Sondertribunals wurde. Die ersten beiden hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen. Aus dem ersten UN-Untersuchungsbericht ging eindeutig hervor, dass Syrien verantwortlich war. Und der erste Ermittler bemühte sich um Beweise und Zeugen, um diese Anklage zu untermauern, aber letztendlich ohne Erfolg.

Als der gerichtliche Teil begann, wurde Syrien nicht weiter erwähnt. Die einzige Erwähnung in der Anklageschrift war, dass die fünf Angeklagten (einer ist inzwischen verstorben) Mitglieder der Hisbollah waren. Aber die Organisation an und für sich wurde nicht beschuldigt.

>>Ausschnitt aus der Tagesschau-Hauptausgabe vom 18. August 2020:

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War der politische Druck zu gross?

Alle diese Tribunale sind politischer Natur, da sie direkt oder indirekt von den Vereinten Nationen abhängen, einer Organisation, die Politik macht, nicht Recht. Der Internationale Strafgerichtshof ist von Staaten abhängig.

Bei dem, was ich am Sondertribunal für den Libanon erlebt habe, ging der politische Einfluss eher in Richtung einer Beschleunigung des Prozesses. Die Libanesen und Libanesinnen waren es leid, jährlich etwa 40 Millionen Dollar zu zahlen, fast die Hälfte des Sondertribunal-Budgets.

Aus meiner Tätigkeit am Gericht habe ich die Erfahrung gezogen, dass Richter ihre Unabhängigkeit verteidigen müssen. Ich nenne das die Pflicht zu Ungehorsam.

Robert Roth
Robert Roth ist seit 1987 Direktor der Genfer Akademie für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte und Professor für internationales Strafrecht an der Universität Genf. DR

Wie haben Sie persönlich diese Druckversuche erlebt?

Der Generalstaatsanwalt des Libanon hatte meine Unabhängigkeit wegen angeblicher zionistischer Verbindungen indirekt in Frage gestellt. Und der Präsident des Tribunals hatte nicht den Mut, ihn an die Unabhängigkeit des Tribunals zu erinnern, obwohl diese in den Statuten festgeschrieben ist. Er leitete daher ein internes Verfahren ein. Dies destabilisierte das Tribunal zumindest teilweise.

Dieser Richter sündigte auch aus Unkenntnis der libanesischen Realität. Um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten, müssen die Richter und Richterinnen auch ihre Augen offen halten für die Realitäten und Dynamiken im Libanon.

Manche Richter und Richterinnen sind im Gegenteil der Meinung, dass sie zur Sicherung ihrer Unabhängigkeit die Lage im Libanon nicht mitverfolgen sollten, aus Angst, darin verwickelt zu werden. Insbesondere befürchteten sie, dass die Hisbollah das Tribunal in der Presse weiterhin angreifen würde. Aber diese Partei hat die Finanzierung des Tribunals nie angeprangert, obwohl sie seit langem an der Regierung beteiligt ist.

Gab es die Hoffnung, dass Ermittlungen zu Kriegsverbrechen im syrischen Bürgerkrieg auch dem Sondertribunal für den Libanon indirekt Beweise liefern könnten?

Ja, diese Hoffnung gab es. Als ich Richter war, schien es klar, dass das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verurteilt würde. Und wir fragten uns, ob dieser Sturz uns Zugang zu Dokumenten des Regimes verschaffen würde. Das ist ganz und gar nicht passiert.

Einige der Protagonisten sind verschwunden. Derjenige, den die Berichte der Untersuchungskommission als den wahrscheinlichen Haupttäter einer solchen syrischen Operation im Libanon ansahen, starb nach offizieller Darstellung bei einem Kampf in seinem Büro. Was die hauptsächlich verantwortliche Person betrifft – Bashar al-Assad –, so ist er immer noch Präsident von Syrien.

Dennoch ist es möglich, dass sich aus den laufenden Gerichtsverfahren wegen in Syrien begangener Verbrechen Elemente ergeben könnten. Die beschuldigte Person müsste jedoch auch an den Operationen im Libanon beteiligt gewesen sein. Und es deutet nichts darauf hin, dass der Sondergerichtshof für den Libanon in der Lage sein wird, sich mit der Sache zu befassen, selbst wenn gegen das Urteil von diesem Dienstag Berufung eingelegt wird.

Der Saal des Sondergerichtshofs
Das Tribunal bei der Verkündung des Urteils von Salim Ayyash, dem einzigen Verurteilten im Hariri-Prozess. Tribunal Spécial pour le Liban

Die Länge des Prozesses war Gegenstand heftiger Kritik, wie bei den meisten internationalen Kriegsverbrecherprozessen. Ist die Kritik gerechtfertigt?

Was das Sondertribunal für den Libanon betrifft, so war es nicht unvermeidlich, dass es so lange dauern würde, und ich glaube nicht, dass die Politik der Hauptgrund für die Verzögerungen ist. Zunächst einmal ist es die Schwerfälligkeit des Verfahrens, die seine Länge erklärt, trotz der anfänglichen Bemühungen, schneller voranzukommen. Daher auch die Option einer Verurteilung in Abwesenheit. Eine Premiere seit den Nürnberger Prozessen.

Die Schwerfälligkeit der Verfahren betrifft die meisten der Tribunale, die für die Strafverfolgung von internationalen Verbrechen eingerichtet wurden. Eine Reihe von Richtern und Richterinnen des Internationalen Strafgerichtshofs hat sich wiederholt gegen diese schwerfälligen Verfahren aufgelehnt. Im vergangenen Jahr gab der italienische Richter Cuno Tarfusser eine energische Stellungnahme ab, die zeigt, warum das von den Richtern eingerichtete Verfahren nicht funktioniert.

“Auf der Grundlage der Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen der Kommission und der libanesischen Behörden, der bisher gesammelten materiellen und dokumentarischen Beweise und der bisher verfolgten Spuren gibt es übereinstimmende Beweise für eine libanesische und syrische Beteiligung an diesem Terroranschlag.

Es ist bekannt, dass der syrische Militärgeheimdienst im Libanon mindestens bis zum Abzug der syrischen Streitkräfte gemäß Resolution 1559 (2004) eine durchdringende Präsenz hatte. Die ehemaligen libanesischen Sicherheitsbeamten wurden von ihm ernannt. Da die libanesischen Institutionen und die libanesische Gesellschaft von syrischen und libanesischen Geheimdiensten im Tandem infiltriert wurden, ist es kaum vorstellbar, dass ein so komplexes Attentat ohne ihr Wissen ausgeheckt werden konnte”.

Auszug aus dem Bericht der von Detlev Mehlis Beirut geleiteten Internationalen Unabhängigen Untersuchungskommission, veröffentlicht am 19. Oktober 2005.

(aus dem Französischen übersetzt von Sibilla Bondolfi)

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