Blatten: Was darf ein Schweizer Bergdorf kosten?

Gross ist die Solidarität der Schweiz mit den Leuten von Blatten. Doch unmanierlich rasch kam auch die Frage nach den Kosten des Berglebens auf. Entkoppeln sich Berg und Tal voneinander? Betrachtungen aus dem Parlament.
Noch hat sich der Schutt über dem zerstörten Blatten nicht gesetzt, da kommt aus dem Zentrum der urbanen Schweiz die Frage: «Was ist uns das Leben in den Alpen als Gesellschaft wert? Whatever it takes?»
«Wer siedelt um?»
Es war ein Tabubruch: Die Schweizer Solidarität zwischen Berg und Tal wurde im Editorial der «NZZ am Sonntag»Externer Link offen infrage gestellt. Im Lötschental im Wallis verspricht der Gemeindepräsident, dass «wir alle unsere Häuser wieder aufbauen».
Und am Zürcher Bellevue ermuntert ein Chefredaktor dazu, den Rückzug aus den Alpen anzugehen. Er schreibt: «Wo weniger ist, geht weniger kaputt. Wer siedelt um?»
Dass die Debatte so schnell kam, zeigt, wie sehr das Thema bereits aufgestaut war. Und wie dringlich sich die Frage stellt in einem Alpenland, dessen Berge angesichts des Klimawandels bröckeln.
Doch der Ruf aus Zürich kam nicht gut an im Rest des Landes. Noch am Tag der Publikation wurde er auf breiter Front als «pietätlos» kritisiert.
Die Diskussion, Hochtäler aufzugeben ist bereits vor dem tragischen Ereignis in Blatten falsch gewesen und sie ist es heute erst recht, eigentlich ist sie pietätlos. Hochtäler aufgeben bedeutet immer, Menschen die Heimat zu nehmen. https://t.co/XJgQnF1UkZExterner Link
— Philipp Matthias Bregy ⚽️ (@pmbregy) June 1, 2025Externer Link
Am Montag darauf sitzt Anna Giacometti im Parlament in Bern. Die Reise von ihrem Wohnort im Bergell zum Bundeshaus dauert fünf Stunden. Es ist der längste Arbeitsweg aller Schweizer Parlamentsmitglieder. Giacometti ist Nationalrätin der wirtschaftsliberalen FDP.
«Eine riesige Solidarität, das tat gut»
«Es kommt nicht jeden Tag ein Bundesrat in ein Bergtal», sagt sie und erzählt von 2017, als sie Präsidentin der Gemeinde Bregaglia war. Eine Gemeinde, ein Dutzend Dörfer, darunter auch Bondo.
Auch dort kam der Berg mit einer Wucht, die sich niemand hatte vorstellen können. Acht Bergwanderer verloren ihr Leben. Murgänge verwüsteten Teile des Dorfs.

Heute erinnert sich Anna Giacometti an die «riesige Solidarität der Schweiz» und sagt: «Das tat gut.»
Am Tag nach dem Bergsturz kam Bundespräsidentin Doris Leuthard mit dem Helikopter. Doris Leuthard umarmte sie, und die Bundespräsidentin hatte Tränen in den Augen. Ein Foto davon hängt bei Anna Giacometti daheim an der Wand.
«Das schaffen wir»
Sie fliegen über das verschüttete Val Bondasca, die Bundespräsidentin, die Gemeindepräsidentin und die Regierungspräsidentin des Kantons Graubünden. Ergriffen blickt Giacometti auf die gewaltigen Schäden im Dorf hinunter.

«Wer soll das alles bezahlen?», fragt sie. Die Antwort kommt von der Regierungspräsidentin: «Daran musst du jetzt nicht denken, das schaffen wir.»
Whatever it takes. Bondo war vor acht Jahren, August 2017. Jetzt ist das Dorf wieder aufgebaut. 53 Millionen Franken haben die Schutzbauten gekostet – Brücken, Kantonsstrasse und ein Kreisel inbegriffen.

«Ist das verhältnismässig für 200 Einwohnerinnen und Einwohner?», fragte der Tages-AnzeigerExterner Link Ende Mai. Anna Giacometti sagt: «Das sind Fragen von Leuten, die im Mittelland oder in einer Stadt leben. In Zürich kostet eine Velounterführung auch 40 Millionen.»
Was bei Schutzbauten verhältnismässig ist, regelt in der Schweiz ein einfacher Grundsatz: Jeder investierte Franken muss einen Franken an potenziellen Schäden verhindern.
Das Geld kam stets vom Tal
Als der Wohlstand in die Schweiz kam, liess er sich zunächst in den Städten nieder. Das Leben auf dem Land war bescheiden, in den Bergen war es arm, karg und oft prekär.
Erst mit dem Tourismus im 19. Jahrhundert kam etwas Geld in die Bergdörfer. Mit der Elektrifizierung konnten einige Gemeinden später auch ihre Wasserkraft zu Geld machen.
Doch die grossen Brocken – die Infrastruktur mit ihren Schulen, Strassen und Spitälern – waren von Beginn an ein Akt der Solidarität. Das Geld kam vom Tal.
Seit ihrer Staatsgründung im Jahr 1848 pumpt die Schweiz Gelder in die Bergkantone, man spricht dabei vom vertikalen Finanzausgleich.
Mit zunehmendem Wohlstand im Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg legt das Land dann den Grundstein für einen Solidaritäts-Transfer zwischen den reichen und den ärmeren Kantonen. Diesen horizontalen Finanzausgleich verankert die Schweiz 1959 in ihrer Verfassung.
Die Kosten des Berglebens
Wer in den Bergen lebt, versteht sich darum nicht als Bittsteller, sondern als Empfangsberechtigter. Das liegt auch daran, dass das Leben dort naturgemäss aufwändiger ist.
Denn in der Höhe hat alles seine Launen: das Wetter und die Jahreszeiten, die Bäche und die Lawinen, die Tiere und die Pflanzen – die Menschen erst recht.
Doch vielleicht ist auch das eine Projektion wie so vieles, was Städter über Bergler denken, und Bergler über Städter. Oft betrachtet man sich gegenseitig als Exot:innen. «Der Berg diskutiert nicht», sagen jedenfalls die Menschen, die mit ihm leben. Er gibt und er nimmt.
Dann kommen die Steine

Andrea Zryd kennt die Berge seit ihrer Kindheit. «Sie verändern sich», sagt sie. Zryd sitzt für die Sozialdemokraten im Nationalrat, begeisterte Berggängerin, im Bergdorf Adelboden aufgewachsen. «Jetzt sind es auch kleine Bächlein, die plötzlich kommen und alles überschwemmen», sagt sie.
Beim Bergsteigen sei es manchmal wie mit Glas, das einen ersten Riss zeigt. Es braucht nur wenig, dann zerfällt, was fest war, in einzelne Teile. Dann kommen Steine herunter.
Zryd erzählt von diesem Sommertag im Jahr 2008, als sie eine Bergtour bei Adelboden unternahm. Es war die normale Route, nicht schwierig. Ein Stück Felswand löste sich. Ihr Vater stand darauf. Er verunglückte tödlich.
Beim Schutz vor dem Berg gebe es eine emotionale Betrachtungsweise, sagt sie: «Gerade Bergdörfer gehören mit ihrer Geschichte zur Schweizer Kultur und sind deshalb auch einen Schutzaufwand wert.»
Realistisch betrachtet müsse sich die Schweiz jedoch daran gewöhnen, dass wohl einige Siedlungen unbewohnbar werden. «Weil es zu gefährlich wird.»
«Nichts hätte diesen Berg halten können»
Der Berg entscheidet. Im Fall von Blatten, sagt SVP-Finanzpolitiker Michael Götte, hätte nichts Menschenmögliches den Bergsturz aufhalten können. Ein «Whatever it takes» beeindruckt keinen Berg.
Auch Götte als Vertreter der ländlichsten – und grössten – Partei sagt: «Wir werden beim Schutz von Dörfern Prioritäten setzen müssen.»
Doch was kostet dieser Schutz? In der Schweiz investieren Bund, Kantone und Gemeinden nach Angaben des Bundesamts für Umwelt jährlich rund 400 Millionen Franken in Schutzbauten. Die tatsächlich benötigte Summe übersteigt diese jedoch um das Zehnfache.
Mehr als 3 Milliarden jedes Jahr
Die erste und bisher einzige umfassende AnalyseExterner Link dazu erstellte die Schweiz 2007. Dabei wurden auch Versicherungsprämien und -rücklagen, Kosten von Feuerwehren, Polizei und Zivilschutz sowie für Forschung einkalkuliert. Diese Analyse kam vor zwanzig Jahren auf eine Summe von 2,9 Milliarden Franken.
Teuerungsbereinigt sind das heute 3,15 Milliarden – und die Kosten müssen gestiegen sein. Es ist mehr Geld, als die Landwirtschaft jährlich an Direktzahlungen erhält, und mehr, als die Schweiz für Entwicklungshilfe ausgibt.
Doch im Schweizer Parlament gibt es niemanden, der eine Woche nach dem Bergsturz von Blatten öffentlich sagen würde, wie man beim Schutz von Siedlungen sparen könnte.
In die Parteiprogramme integriert
Im Gegenteil: Die SVP will nun Gelder umlenken – weniger Entwicklungshilfe, mehr Schutzverbauungen. Die FDP will die CO2-Abgaben anzapfen: Weniger für Subventionen für die Sanierung von Eigenheimen, mehr Schutzverbauungen.
Und die Grünen wollen Geld aus dem Nationalstrassenfonds einsetzen: für mehr Schutzbauten. So einfach wird das Unglück von Blatten in die Parteiprogramme integriert.
Technisch ist die Solidarität beim Schutz der Siedlungen geregelt. «Es ist eine Verbundaufgabe mit der Idee, dass sich Bund, Kanton und Gemeinde mit je einem Drittel an den Kosten beteiligen», sagt Daniela Mangiarratti, Informationsbeauftragte Naturgefahren beim Bundesamt für Umwelt BAFU. So beteiligt sich der Bund im Grundsatz mit 35 Prozent an den Kosten.

Doch gerade kleine Gemeinden sind bei grossen Ereignissen schnell überfordert. Dann leisten Kantone oder der Bund manchmal mehr. «Bei grossen Projekten oder überdurchschnittlich hoher finanzieller Belastung werden die Bundesbeiträge nach festen Regeln erhöht», sagt Mangiarratti.
Grosse Solidarität mit Blatten
Im Moment ist die Solidarität mit der Bevölkerung von Blatten gross. Nationalratspräsidentin Maja Riniker rief zum Auftakt der aktuellen Session ihre Ratskolleg:innen zu einer Spende von einem Taggeld auf, das sind 440 Franken.
Die grossen Kantone Bern Zürich und Graubünden senden solidarisch ebenfalls einige Hunderttausend Franken, Luzern eine Million. Der Kanton Wallis spricht zehn Millionen für seine verschüttete Gemeinde.
Auch die Schweizer Bevölkerung spendet. Die Behörden im Lötschental rufen inzwischen dazu auf, keine Kleider mehr abzugeben. Ihr Aufruf vom Wochenende, von Reisen ins Lötschental abzusehen, wurde befolgt, auf allfällig geplante Safaris ins Katastrophengebiet verzichtet.
Editiert von Samuel Jaberg

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