The Swiss voice in the world since 1935

Nach Blatten: Warum all die Bergstürze in der Schweiz?

Bergsturz von Blatten
Der verheerende Bergsturz von Blatten am 28. Mai. SRF

Blatten ist zerstört. In den Alpen nehmen kleinere Erdrutsche wegen des Klimawandels zu. Ob dieser auch an grossen Bergstürzen wie beim Walliser Dorf schuld trägt, ist weniger eindeutig.

Bondo, Brienz, Lostallo, Cevio und jetzt Blatten. Die Bewohner dieser Schweizer Alpendörfer teilen ein Schicksal: Sie mussten ihre Häuser aufgrund von Naturgefahren verlassen. Erdrutsche und Murgänge machen Orte, die seit Jahrhunderten bewohnt sind, für ihre Bewohner zur Gefahr. Doch so schlimm wie in Blatten hat es ein Dorf bisher nicht getroffen.

Dort, im Walliser Lötschental, stürzte am 28. Mai ein grosser Teil des Birchgletschers mit Gesteinsschutt ins Tal. Eis- und Geröllmassen gelangten ins Dorf. Die gigantische Lawine aus Eis, Schlamm und Geröll zerstörte einen grossen Teil des Dorfes.

Externer Inhalt

«Es war ein ziemlich unvorhersehbares Ereignis», sagte Mylène Jacquemart, Glaziologin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) nach dem ersten von mehreren Bergstürzen gegenüber Swissinfo. Wir sprachen mir ihr und anderen Expert:innen vor dem 28. Mai.

«Die Veränderungen im Gestein geschahen entweder sehr schnell oder es gab bereits seit Monaten oder Jahren Bewegungen, die niemand bemerkt hat.»

Die Vorhersage solcher Ereignisse ist äusserst komplex und erfordert das Verständnis des Klimawandels sowie zahlreicher anderer Faktoren, die die Bewegung von Bergen beeinflussen können.

Sehen Sie sich hier einen ersten Einsturz des Birchgletschers an:

Klimawandel erhöht Naturgefahren

«In den Schweizer Alpen hat es schon immer instabile Gebiete gegeben», sagt Naturgefahren-Experte Federico Ferrario. Grund dafür sind geologische und hydrogeologische Gegebenheiten sowie andere Wettereinflüsse.

«Mit dem Klimawandel werden diese Instabilitäten auch in höheren Lagen immer relevanter», so Ferrario. Gletscher und Permafrost, der sogenannte «Leim der Alpen», schmelzen bei steigenden Temperaturen und destabilisieren die Hänge. Das Risiko eines Bergsturzes steigt.

Eine aktuelle StudieExterner Link der WSL bestätigt, dass der Klimawandel das Risiko von Naturkatastrophen in den Alpen erhöht. In Alpenregionen mit schmelzendem Permafrost kann es vermehrt zu Felsstürzen und Felswandeinbrüchen kommen.

Die Schweiz ist vom Klimawandel besonders betroffen und die Alpen gehören zu den Regionen, die sich am schnellsten erwärmen.

Im Vergleich zum vorindustriellen Niveau ist die Durchschnittstemperatur um fast 3 °C gestiegen, was etwa dem Doppelten des globalen Durchschnitts entspricht.

Was ist Permafrost und warum bedroht sein Auftauen die Bergregionen? Wir erklären es hier:

Mehr

Grosse Erdrutsche: Ausnahme oder immer häufiger?

Die Auswertung der wissenschaftlichen Literatur der letzten 30 Jahre durch die WSL zeigt, dass es noch viele Unsicherheiten bezüglich der genauen Ursachen von Bergstürzen gibt.

Einen eindeutigen Zusammenhang mit der Klimaerwärmung gibt es lediglich bei Felsstürzen, bei denen sich einzelne Felsen mit einem Durchmesser von weniger als 50 Zentimetern von den Bergen lösen. (Die Unterschiede zwischen Felsstürzen, Erdrutschen und Steinlawinen werden hierExterner Link erläutert.)

Eine Quantifizierung der Auswirkungen des Klimawandels auf Erdrutsche und andere Massenbewegungen im Gebirge bleibt laut WSL aufgrund der Komplexität der Natur sowie der Grenzen der verfügbaren Daten und der bestehenden statistischen Verarbeitungsmethoden schwierig.

Bei kleinen Erdrutschen mit 100 bis 1000 Kubikmetern Material besteht laut Mylène Jacquemart, Mitautorin der WSL-Studie, ein klarer Zusammenhang mit dem Klimawandel. «Sie treten immer häufiger auf, vor allem in höheren Lagen», sagt sie.

Solche Erdrutsche können Wanderwege blockieren, Gebäude beschädigen und eine Gefahr für Menschen und Tiere darstellen.

Einen Zusammenhang zwischen steigenden Temperaturen und grösseren Erdrutschen herzustellen, wie dem aktuellen in Blatten oder jenem von 2017 in Bondo, sei jedoch verfrüht, so Jacquemart.

«Unsere systematischen Beobachtungen erstrecken sich über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Das ist zu wenig, um zu sagen, ob es sich um aussergewöhnliche Ereignisse handelt oder ob es eine statistisch signifikante Veränderung gibt.»

Ein Bergsturz
Am 18. Mai 2025 ist ein Teil des Gipfels des Kleinen Nesthorns in den Schweizer Alpen oberhalb des Dorfs Blatten ins Tal gestürzt. Die Wand ist weiterhin instabil. Kapo VS

«Unsere Berge stürzen nicht reihenweise ein»

«Die lokalen geologischen Bedingungen und die Topografie spielen eine wichtige Rolle», sagt Robert Kenner von der WSL. Die Destabilisierung von Felswänden ist das Ergebnis eines Prozesses, der Tausende von Jahren dauern kann. Witterungseinflüsse oder das Klima können jedoch den Zeitpunkt eines Ereignisses beeinflussen.

So kann beispielsweise das Schmelzwasser eines Gletschers in Risse im Gestein eindringen, beim Gefrieren expandieren und so zur Auflösung des Gesteins und schliesslich zum Bergsturz führen.

«Unsere Berge stürzen nicht reihenweise ein», sagt Robert Kenner gegenüber der Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-ATS.

Was Murgänge, also Schlamm- und Steinlawinen, betrifft, hat die Zahl der Starkniederschläge, die sie auslösen können, deutlich zugenommen. Laut Jacquemart deuten aber nur die Hälfte der untersuchten Studien auf eine Zunahme von Murgängen hin.

Die rund 300 Menschen, die diese Woche aus dem Dorf Blatten vertrieben wurden, sind bei Weitem nicht die Einzigen, die ihre Heimat aufgrund drohender Naturkatastrophen verlassen mussten.

Wie aus dem jüngsten BerichtExterner Link der Beobachtungsstelle für Binnenvertreibungen hervorgeht, gab es im Jahr 2024 in der Schweiz 1100 Zwangsumsiedlungen aufgrund von Überschwemmungen und Erdrutschen. Die Zahl bezieht sich auf die Anzahl der Fälle, in denen eine Person gezwungen war, umzuziehen.

Mit 1100 Fällen wurde die höchste Zahl seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2008 verzeichnet, sie war fast dreimal so hoch wie die Zahl von 2023.

Die meisten Menschen konnten in ihre Heimat zurückkehren. Ende 2024 waren in der Schweiz 97 Personen als «Binnenvertriebene» gemeldet.

Weltweit lag die Zahl der Zwangsumsiedlungen aufgrund von Naturkatastrophen im Jahr 2024 bei 45,8 Millionen. Zu den am stärksten betroffenen Ländern gehörten die Vereinigten Staaten, die Philippinen, Indien, China, Bangladesch, Nigeria und Brasilien.

«Unmöglich, jede Felswand in der Schweiz zu überwachen»

Mithilfe von Satellitenbildern, Radargeräten und Sensoren im Boden ist es jedoch möglich, Bodenbewegungen an Berghängen zu überwachen. Bei Anomalien können die Behörden eine Warnung ausgeben.

«Die Schweiz ist Vorreiterin bei der Überwachung der Alpen», sagt Yves Bühler, Experte für Überwachungsgeräte am Institut für Schnee- und Lawinenforschung.

Externer Inhalt

«In der Schweiz gibt es eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen Behörden, die Entscheidungen treffen müssen, privaten Unternehmen, die Hightech-Überwachungssysteme entwickelt haben und anbieten, sowie Forschern, die neue Geräte testen und validieren», erklärt er dem Schweizer Fernsehen SRF.

Wenn ein Phänomen bekannt ist und kontrolliert werden kann, ist es möglich, einzugreifen und Katastrophen zu verhindern. Betonmauern und Dämme können beispielsweise Dörfer vor Überschwemmungen und Murgängen schützen.

Wenn die Materialmengen jedoch sehr gross sind und sich in unzugänglichen Gebieten befinden, ist ein Eingreifen sowohl technisch als auch finanziell viel schwieriger, so Ferrario.

«In den Alpen ist es sehr schwierig vorherzusagen, wo der nächste Bergsturz stattfinden wird», sagt Mylène Jacquemart. Menschen, die in den Bergen leben, und Satellitendaten können dabei wertvolle Informationen liefern. Es ist jedoch unmöglich, jede Felswand in der Schweiz zu überwachen.“

In Kandersteg lebt die Bevölkerung mit der ständigen Gefahr eines Abbruch des Spitzen Steins. Erfahren Sie, was es bedeutet, am Fusse eines instabilen Berges zu leben.

Mehr
Spitzer Stein im Berner Oberland

Mehr

Im Schatten des Spitzen Steins

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Im Alpendorf Kandersteg kämpfen die Einwohner:innen mit den Folgen des Klimawandels: Es drohen Erdrutsche und Überflutungen.

Mehr Im Schatten des Spitzen Steins

Editiert von Gabe Bullard/vdv/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Balz Rigendinger

Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft