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Markus Raetz und die Pforten der Wahrnehmung

Portrait von Markus Raetz
Gleicher Ort, andere Zeit: Markus Raetz bei seiner letzten Einzelausstellung im Kunstmuseum Bern im Jahr 2014. Keystone / Lukas Lehmann

Eine neue Retrospektive mit 3D-Kunstwerken des verstorbenen Schweizer Künstlers Markus Raetz ist im Berner Kunstmuseum zu sehen.

Markus Raetz, einer der bedeutendsten Schweizer Künstler der letzten 50 Jahre, starb am 14. April 2020, mitten im Covid-Lockdown. Sein Werk und sein Andenken wurden in der Schweizer Presse erwähnt, wenn auch ohne grosses Aufsehen; international blieb sein Ableben fast unbemerkt.

Die verhaltenen Nachrufe und die pandemiebedingte Unmöglichkeit, Raetz’ Leben und Werk öffentlich zu feiern, haben eine Lücke hinterlassen, die das Kunstmuseum BernExterner Link nun zu füllen versucht: Bis zum 25. Februar 2024 läuft eine grosse Retrospektive. Zu sehen sind einige der bekanntesten dreidimensionalen Werke von Raetz sowie die vom Künstler geplante, aber nie realisierte Rauminstallation Wolke (2020).

Mehr als ein halbes Jahrhundert fleissiger Tätigkeit hinterliess ein breites Spektrum an Experimenten mit Materialien, Oberflächen und Techniken. Wollte man Raetz’ Werk mit einem Wort definieren, so wäre es sicherlich “Wahrnehmung” – genauer gesagt: “Wahrnehmungsänderung”. Jedoch nicht im Sinne der psychedelischen Aufforderungen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren bei vielen seiner Zeitgenossen in Mode waren.

Vielmehr war er ein Künstler seiner Zeit, den chemischen Hilfsmitteln der damaligen Gegenkultur nicht abgeneigt. Raetz öffnete das, was der britische Schriftsteller Aldous Huxley die “Pforten der Wahrnehmung” nannte, und tauchte tief in deren wesentliche Bedeutung oder die Natur der Wahrnehmung ein. Die wichtigste Frage während seiner gesamten Karriere war laut seiner Witwe Monika: “Ist dies die einzige Art, die Dinge zu sehen?”

Die Ausstellung in Bern beantwortet diese Frage, Kunstwerk für Kunstwerk, mit einem klaren “Nein”.

YESNO, 2002-2008
NOYES, 2002-2008 Sik-isea / Philipp Hitz
NOYES, 2002-2008
NOYES, 2002-2008 Sik-isea / Philipp Hitz

Statisch in Bewegung

Der Schweizer Kritiker Max Wechsler schrieb 1984 in der US-Zeitschrift Art ForumExterner Link, dass “die Kunst von Markus Raetz in einer grundsätzlichen Weise definiert werden kann: als Spannung zwischen Intelligenz und Sensibilität […] aus dieser Spannung erwächst eine Art Kraftfeld, das alles andere in Bewegung setzt und die Kunst in ihrer ganzen Bedeutungsvieldeutigkeit erscheinen lässt”.

Raetz’ Arbeiten fordern vom Betrachter eine gewisse Interaktion, da Perspektivwechsel zu unterschiedlichen Wahrnehmungen der Werke führen. Hinter der scheinbaren Einfachheit der Werke – die manchmal nur aus einem Stück Draht bestehen – verbergen sich sorgfältige Studien über die optische Wirkung von Materialien und Formen. Auch sein Bruder, ein Physiker, spielte eine Rolle bei Raetz’ mathematischen Berechnungen.

Raetz war eine unermüdliche Zeichenmaschine. Er hatte immer ein Skizzenbuch zur Hand, das ihm als illustriertes Tagebuch seiner Träumereien und Studien diente. Einige der Skizzen, die jetzt in Bern ausgestellt sind, können selbst als Kunstwerke betrachtet werden. Für den Künstler war die Zeichnung immer der erste Schritt bei der Herstellung aller seiner Werke, auch der Skulpturen.

Kunstwerk von Markus Raetz - Pfeife/Rauch
“Nichtrauch”, 1990/1992/2005 spielt mit Magrittes berühmtem Gemälde “Ceci n’est pas une pipe”. Copyright: Philipp Hitz. All Rights Reserved.

Immer am richtigen Ort

Raetz hatte das grosse Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Die Schweizer Hauptstadt Bern, wo er 1941 geboren wurde, aufwuchs und schliesslich starb, war nie ein globaler künstlerischer Brennpunkt – mit Ausnahme einer kurzen Periode in den 1960er-Jahren, als der Pionierkurator Harald Szeemann die örtliche Kunsthalle leitete (1963-69). Dies fiel mit dem Zeitpunkt zusammen, als Raetz beschloss, seine Lehrtätigkeit aufzugeben, um sich der Kunst zu widmen.

Szeemann verwandelte Bern damals in eines der führenden Zentren der Avantgarde, was in der wegweisenden Ausstellung When Attitudes become Form gipfelte. Deren Radikalität und die Vorherrschaft der Konzeptkunst kosteten Szeemann schliesslich seine Stelle in Bern.

Raetz gehörte zu den einheimischen Künstler:innen, die in diesem Jahrzehnt in den Bann von Szeemann gerieten. Er begleitete den Kurator bei einigen seiner internationalen Ausstellungen, wie zum Beispiel bei der documenta 5 in Kassel (1972), einem weiteren Meilenstein in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Drei Männer betrachten eine Skulptur
Am 7. Dezember 1968 forderten die Berner Künstler Herbert Distel, Markus Raetz und Jean-Frédéric Schnyder – treue Mitarbeiter des Kurators Harald Szeemann – die Berner Bevölkerung auf, sich an der Weihnachtsausstellung in der Kunsthalle Bern mit erklärenden Etiketten zu schmücken und so die Besuchenden in ein Kunstwerk zu verwandeln. Keystone

Szeemanns Einfluss ging über seine einzigartige Persönlichkeit und seine Kunstwerke hinaus. Das vom Kurator geschaffene Ambiente förderte zahlreiche Verbindungen zwischen Schweizer Künstler:innen und der weltweiten Avantgarde und brachte Kunstbewegungen wie Pop Art, Konzeptkunst, Situationismus, Fluxus und Neo-Dada näher an die Heimat.

Raetz schloss auch eine intensive Freundschaft mit der Grande Dame der Schweizer Kunst, Meret Oppenheim, die 1967 in die Schweizer Hauptstadt gezogen war, um sich unter die junge, wilde Menge zu mischen.

Als die Berner Szene 1969 zu verkümmern begann, zogen Raetz und seine Frau Monika nach Amsterdam. Dieser Auslandsaufenthalt weg von der steifen Heimat, der von ausgedehnten Reisen geprägt war, festigte Raetz’ Arbeitsmethoden und Interessen.

1976 kehrte Raetz endgültig nach Bern zurück, nachdem er einige Jahre in Carona verbracht hatte, einem kleinen Dorf im Kanton Tessin, das bis zu ihrem Tod Meret Oppenheims Lieblingsort war (sie ist dort auch begraben). Zu diesem Zeitpunkt war er zu einem der produktivsten Schweizer Künstler geworden, der immer wieder in den wichtigsten europäischen Hauptstädten ausgestellt wurde.

Mitte der 1980er-Jahre gelang Raetz der Durchbruch in der amerikanischen Szene dank einer Einzelausstellung im New Museum of Contemporary Art in New York (1988). Im selben Jahr vertrat er die Schweiz auf der 43. Biennale von Venedig.

Ein dreidimensionaler Kopf von Mickey Mouse
“Form im Raum”, 1991/1992. Foto: Sik-isea (philipp Hitz)

Eine Schweizer Arbeitsethik?

Bevor er 50 Jahre alt wurde, war Raetz in der schweizerischen und internationalen Kunstszene bereits ein fester Begriff, aber Bekanntheit bedeutete für ihn lediglich die Möglichkeit, kontinuierlich an einem Werk zu arbeiten, das nicht nur die Wahrnehmung der Kunstwerke, sondern auch die der Räume herausfordert.

Seine 3D-Objekte spielen mit der Wahrnehmung ihrer Ausstellungsorte – sie dehnen, stauchen oder verzerren sie. Viele von ihnen treten auch in einen Dialog mit Raetz’ liebsten Einflüssen, wie dem belgischen Surrealisten René Magritte, dem amerikanischen Fotokünstler Man Ray oder Mickey Mouse.

Hasenspiegel, 1988, von Markus Raetz
Einige von Raetz’ Arbeiten waren als private Scherze unter Freunden gedacht, wie dieser “Hasenspiegel” (1988), der mit der charakteristischen Form des deutschen Künstlers Joseph Beuys spielt. © 2023, ProLitteris, Zurich

Es ist vielleicht noch zu früh, um Raetz’ Bedeutung im Universum der zeitgenössischen Kunst umfassend zu beurteilen. Aber er verkörpert sicherlich einige besondere Eigenschaften, die eine Handvoll Schweizer Künstler:innen teilen, die im Ausland berühmt wurden, wie Fischli & Weiss, Max Bill, Meret Oppenheim oder Alberto Giacometti.

Man könnte die trügerische Einfachheit erwähnen, die zu verschiedenen Interpretationen und Bedeutungsebenen führt; die ständige Suche nach dem Wesen der Materialien und der menschlichen Erfahrung; die spielerischen Arrangements von Worten und Begriffen. Aber nichts von alledem lässt sich auf eine “Schweizer Art” des Kunstmachens zurückführen, nicht einmal Raetz’ produktives Arbeitsethos, ähnlich wie bei seinem Zeitgenossen Jean-Frédéric Schnyder, für den “Kunst nur Arbeit ist”.

Die Klischees der schweizerischen protestantisch-calvinistischen Sitten treffen auf Raetz’ Kunst jedoch nicht zu. Auch wenn sie eher zum Schmunzeln als zum Lachen anregt, spiegelt sie doch die stille Freude wider, mit der Raetz seine Werke konzipiert und anfertigt. Es ist eine Menge Arbeit, ja – aber im Grunde ist es Spass und Vergnügen.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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