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Das Schweizer Parlament: Einfach erklärt

Darstellung des Parlaments der Schweiz
So kompliziert ist es nicht, aber einige Besonderheiten des Schweizer Parlaments werden manchmal übersehen. Keystone / Peter Klaunzer
Serie Wahlen 2023-2, Folge 16:

Am 22. Oktober wählen die Schweizer Stimmberechtigten das nationale Parlament für die Jahre 2023 bis 2027. SWI swissinfo.ch zeigt, wie das Schweizer Parlament funktioniert.

Aussergewöhnliche Stabilität

Es gibt Länder, in denen politische Parteien von einer Wahl zur nächsten ihre Wahlanteile von 5 auf 30% steigern oder umgekehrt einbrechen. Wer glaubt, dass solche Ausschläge der Kern einer Demokratie sind, darf die Schweizer Wahlen getrost ignorieren. Denn extreme Ausschläge sind nicht Teil der Schweizer parlamentarischen Demokratie.

Wenn in der Eidgenossenschaft Wahlumfragen veröffentlicht werden, wird tagelang über den “starken Rückgang” der Grünen oder “den Aufstieg” der Schweizerischen Volkspartei (SVP) diskutiert. Dann sind damit aber nicht Erdrutschresultate gemeint, sondern nur kleine Veränderungen: Gemäss einer Wahlumfrage vom März dieses Jahres würden die Grünen im Vergleich zu 2019 beispielsweise 2,5% Wähleranteile verlieren, während die FDP ein Prozent zulegen würde – und dies bei einer Fehlermarge von 1,2%.

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Grafik Wahlen 2023

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Die grüne Welle in der Schweiz ebbt ab

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Wie gewonnen, so zerronnen: Die Grünen dürften an den nationalen Wahlen im Herbst Sitze abgeben.

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Tatsächlich zeichnet sich das Schweizer Parlament durch eine aussergewöhnliche Stabilität aus. Das heisst nicht, dass die Zusammensetzung der Legislative in den letzten 175 Jahren identisch geblieben wäre. Weit gefehlt. Für Veränderungen braucht es in der Schweiz einfach mehr Zeit. In den letzten zwei Jahrzehnten hat zum Beispiel die Schweizerische Volkspartei (SVP) stark zugelegt und ihre Wähleranteile zwischen 1991 und 2015 fast verdreifacht. Mit den Grünen in den 1980er-Jahren und der Grünliberalen Partei in den Nullerjahren sind zudem zwei politische Kräfte entstanden, die im Vergleich zu einigen kurzlebigen Formationen der Schweizer Politikgeschichte wohl längerfristig existieren dürften.

Doch im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien geht die Verschiebung der politischen Gleichgewichte in der Schweiz eher gemächlich vonstatten, wie die folgende Grafik zeigt, die die Stärke der Parteien im Nationalrat, der Volkskammer, aufzeigt. Diese werden seit 1919 nach dem Proporzsystem gewählt.

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Zwei Kammern und 246 Sitze

Die Bundesversammlung – so lautet der offizielle Name des Schweizer Parlaments – besteht aus zwei Kammern: dem Ständerat, der Kantonskammer mit 46 Mitgliedern, und dem Nationalrat, der Volkskammer mit 200 Mitgliedern.

In diesem Video wird im Detail erklärt, wie die Wahlen ablaufen:

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Dieses Zweikammersystem wurde 1848 nach der Gründung des Bundesstaates eingeführt. Es basiert im Wesentlichen auf dem US-amerikanischen Modell. Die beiden Organe haben die gleichen Befugnisse und jede Entscheidung bedarf der Zustimmung beider Kammern.

Die Anzahl der Vertreter:innen im Ständerat ist immer gleichgeblieben: Jeder Kanton stellt zwei Ständeräte oder Ständerätinnen. Nur die sechs früheren Halbkantone (NW, OW, AI, AR, BS, BL) stellen jeweils einen Ständerat oder eine Ständerätin. Seit der Kanton Jura 1979 eigenständig geworden ist, hat die Kleine Kammer folglich 46 Mitglieder. Zuvor waren es 44.

Der Nationalrat als Volkskammer (Grosse Kammer) hat hingegen mehrere Veränderungen erfahren. Im Jahr 1848 bestand er aus 111 Mitgliedern. Jeder Abgeordnete (erst 1971 nach der Einführung des Frauenstimmrechts sind die ersten Frauen ins Parlament gewählt wurden) vertrat rund 20’000 Einwohner:innen (einschliesslich Ausländer:innen).

Das Bevölkerungswachstum hat zu einem allmählichen Anstieg der Zahl der Volksvertreter:innen geführt. Seit 1962 besteht der Nationalrat aus 200 MItgliedern; heute vertritt jedes Mitglied des Nationalrats etwa 40’000 Einwohner:innen.

Jeder Kanton erhält im Verhältnis zu seiner Wohnbevölkerung eine Anzahl von Sitzen im Nationalrat. Zürich hatte zum Beispiel als bevölkerungsreichster Kanton bisher 35 Sitze, ab 2023 36 Sitze. Es kommt regelmässig vor, dass ein Kanton je nach seiner demografischen Entwicklung einen Sitz gewinnt oder verliert.

Kleine Kantone haben nur einen Sitz. Es gilt aber der Grundsatz, dass jeder Kanton Anspruch auf mindestens einen Sitz hat, auch wenn er – wie etwa Appenzell-Innerrhoden – weniger als 40’000 Einwohner:innen zählt.

Majorz oder Proporz?

Die Ständeratswahlen werden praktisch in allen Kantonen nach dem MajorzsystemExterner Link durchgeführt. Nur die Kantone Neuenburg und Jura wenden das Proporzsystem an. Der Nationalrat hingegen wird seit 1919 nach dem Proporzsystem gewählt. Die Wahlkreise sind die Kantone.

Dieses Nebeneinander von Mehrheits- und Proporzsystem hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Parteienstärke im Parlament. Die Vertretung im Nationalrat wird durch den prozentualen Anteil der von jeder Partei erzielten Stimmen bestimmt. Dieser Prozentsatz ist im Regelfall auch ausschlaggebend zur Analyse des Wahlergebnisses, welche zur Berechnung von Gewinnen oder Verlusten der einzelnen politischen Lager herangezogen werden.

Die bei den Ständeratswahlen angewandte Majorzwahl begünstigt hingegen nicht unbedingt die wählerstärkste Partei auf nationaler Ebene. Andere Kriterien sind ausschlaggebend: Die Verankerung einer Partei im jeweiligen Kanton, ihre Fähigkeit, Allianzen zu bilden, um einen einzigen Kandidaten zu präsentieren, also dessen oder deren Fähigkeit zum Konsens.

Es ist kein Zufall, dass der Ständerat nach wie vor von zwei historischen Parteien dominiert wird, die bei den letzten Wahlen zusammen nur etwas mehr als 26% der Stimmen erhielten. Die Mitte und die FDP stellen momentan 26 von 46 Vertreter:innen im Ständerat (Dezember 2022: 14 Mitte, 12 FDP). Die wählerstärkste Partei der Schweiz, die Schweizerische Volkspartei (SVP), verfügt dagegen mit einem Stimmenanteil von 25,6% bei den Nationalratswahlen nur über sechs Sitze im Ständerat.

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Das Parlament: stark und schwach zugleich

Im Vergleich zu anderen Staaten, etwa den USA, wo der Präsident gegen bestimmte Erlasse des Parlaments ein Veto einlegen kann, ist das Schweizer Parlament souverän. Will heissen: Seine Beschlüsse können von der Regierung nicht angefochten werden. Auch kann ihre Verfassungsmässigkeit vom Bundesgericht, der höchsten gerichtlichen Instanz der Schweiz, nicht in Frage gestellt werden.

Umgekehrt gibt es in der Schweiz auch kein Misstrauensvotum gegenüber Regierungsvertreter:innen. Die Bundesversammlung kann weder die Regierung entlassen noch einen Bundesrat während seiner Amtszeit abberufen. Eine Ausnahme ist im Falle einer schweren Krankheit eines Regierungsmitglieds möglich.

Die einzige Möglichkeit für das Parlament, seine Unzufriedenheit mit einem Mitglied der Exekutive zum Ausdruck zu bringen, sind die Bundesratswahlen, die alle vier Jahre im Dezember kurz nach den Parlamentswahlen stattfinden. Aufgrund der Konkordanz, welche das politische System der Schweiz auszeichnet, sind solche “Abwahlen” amtierender Bundesräte äusserst selten. Seit 1848 sind nur vier Bundesrät:innen, die sich zur Wiederwahl stellten, vom Parlament nicht bestätigt worden. Der letzte war der SVP-Bundesrat Christoph Blocher im Jahr 2007.

In der Schweiz gibt es auch nicht den in vielen demokratischen Systemen üblichen Gegensatz zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Bei den meisten Dossiers müssen Regierung und Parlament versuchen, einen Kompromiss zu finden, der von einer Mehrheit getragen wird. Diese Mehrheiten können variieren, weil es keine Koalitionsvereinbarung zwischen den an der Regierung beteiligten politischen Kräften gibt. Die Legislativmitglieder der Regierungsparteien sind nicht verpflichtet, die Beschlüsse des Bundesrates, also der Regierung, zu unterstützen.

All dies bedeutet, dass es in der Schweiz keine Regierungskrisen und keine vorgezogenen Wahlen gibt. Im Moment läuft die 51. Legislaturperiode (2019-2023) seit der Gründung der modernen Schweiz als Bundesstaat im Jahr 1848.

Wenn das Schweizer Parlament ein Gesetz beschlossen hat, kann dieser Entscheid aber über ein fakultatives Referendum angefochten werden. Wenn 50’000 gültige Unterschriften innerhalb von 100 Tagen nach der amtlichen Veröffentlichung eines Gesetzes gesammelt werden, muss das Gesetz oder der Bundesbeschluss den Stimmberechtigten für einen Volksentscheid vorgelegt werden.

Die alten Parteien

Von der Gründung des Bundesstaates 1848 bis zur Einführung des Proporzsystems 1917 wurde die Bundesversammlung von der Freisinnig-Demokratischen Partei (seit 2009 “FDP.Die Liberalen”) dominiert, nur die katholisch-konservative Partei (die spätere CVP und heutige Partei “Die Mitte”) bildete eine oppositionelle Kraft.  

Die Einführung des Verhältniswahlrechts (Proporz) für die Nationalratswahlen im Jahr 1919 war ein Wendepunkt für das Schweizer System, der es den bis anhin kleinen politischen Parteien erstmals ermöglichte, in der nationalen Politik wirklich ein Wort mitzureden. Damals erhöhte zum Beispiel die Sozialdemokratische Partei (SP) ihre Mandate im Nationalrat von 22 auf 41. Bei der gleichen Wahl machte die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) ein starkes Ergebnis. Diese 1971 in die Schweizerische Volkspartei (SVP) umgewandelte Formation ist heute die relative Mehrheitspartei im Schweizer Parlament.

Obwohl jede Partei ihre Höhen und Tiefen hatte, haben vier Parteien (FDP, CVP, SP, SVP) während des gesamten 20. Jahrhunderts die Schweizer Politik bestimmt. Doch seit der Jahrtausendwende und einhergehend mit dem wachsenden Umweltbewusstsein haben zuerst die Grüne Partei und dann die Grünliberale Partei die Karten neu gemischt. Bei den letzten Eidgenössischen Wahlen von 2019 konnten die beiden Umweltparteien einen Fünftel der Sitze in der Bundesversammlung gewinnen.

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Ein Milizparlament

Personen ohne einen direkten Bezug zur Eidgenossenschaft staunen immer wieder, wenn sie den Begriff “Miliz” hören. Denn dieser weckt kriegerische Assoziationen. Tatsächlich stammt er ursprünglich aus dem Kriegswesen (lateinisch: militia). Doch gemäss dem Historischen Lexikon der SchweizExterner Link “bezeichnet der Begriff Milizsystem ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip, das auf der republikanischen Vorstellung beruht, wonach ein jeder dazu befähigter Bürger neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben zu übernehmen hat.”

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Im politischen und institutionellen Kontext der Schweiz wird das parlamentarische Milizsystem als Gegensatz zu einem Berufsparlament verstanden. Das Schweizer Parlament setzt sich nämlich aus Politikerinnen und Politikern zusammen, die neben ihrer parlamentarischen Tätigkeit einen Beruf ausüben. Das zumindest war lange das Idealbild.  

Heute ist die Arbeit eines eidgenössischen Parlamentariers komplexer geworden und entspricht einer 50%-Stelle. Praktisch jede dritte gewählte Person ist als Vollzeitpolitiker:in tätig, wie eine Studie der Universität LausanneExterner Link aus dem Jahr 2019 zeigt.

Bis Ende der 1960er-Jahre erhielten die Mitglieder der Bundesversammlung keine Diäten, sondern nur Sitzungsgelder und Reisekostenzuschüsse. Das unterschied sie klar von Mitgliedern der Parlamente in den meisten westlichen Staaten. Heute hingegen erhalten sie ein Jahressalär von 26’000 Franken, ein Taggeld von 440 Franken pro Sitzungstag, eine Entschädigung von 33’000 Franken für Personal- und Sachkosten sowie verschiedene andere Zulagen für Reisen, Mahlzeiten und Übernachtungen.

Gemäss einer Studie der Universtiät GenfExterner Link lag der Median des Bruttoeinkommens zwischen 2011 und 2015 für die Mitglieder des Nationalrats bei 68’400 Franken und bei 79’500 Franken für die Mitglieder des Ständerats (die in der Regel an mehr Kommissions- und Delegationssitzungen teilnehmen).

Zu diesen direkten Einkünften müssen noch diverse andere Entschädigungen hinzugerechnet werden. Das heisst: Ein Mitglied der Bundesversammlung kann rund 100’000 Franken pro Jahr durch die politische Arbeit verdienen. Dieser Betrag liegt etwas höher als das nationale Durchschnittseinkommen pro Jahr, das zirka 80’000 Franken beträgt.

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Wie viel verdienen Parlamentarier?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Frage der Entlöhnung von Abgeordneten taucht regelmässig wieder auf. Kürzlich kam das Thema wieder aufs Tapet, als der freisinnige Zuger Ständerat Joachim Eder in einer parlamentarischen InitiativeExterner Link verlangte, dass für nicht erfolgte Übernachtungen keine Übernachtungsentschädigungen mehr verlangt werden dürften. Einige Monate zuvor hat Nationalrat Hans Grunder von der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) ebenfalls eine…

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Wer kann Bundesparlamentarier:in werden?

Jede Schweizerin und jeder Schweizer, die oder der das 18. Lebensjahr vollendet hat, kann ins Parlament gewählt werden, unabhängig davon, ob sie oder er einen Wohnsitz in der Eidgenossenschaft hat oder nicht. Die meisten Abgeordneten gehören einer politischen Partei an, dies ist jedoch nicht obligatorisch. Es ist möglich, gewählt zu werden, ohne Mitglied einer Partei zu sein. Gewisse Personen sind aufgrund von mentalen Einschränkungen und “Entmündigungen” vom Stimm- beziehungsweise Wahlrecht ausgeschlossen (Details im Bundesgesetz über die politischen RechteExterner Link).

In der aktuellen Legislaturperiode (2019-2023) liegt der Frauenanteil im Nationalrat bei 41,5%. Der Ständerat ist hingegen nach wie vor klar männerdominiert: Dort liegt der Frauenanteil bei 25%.

In der Grossen Kammer liegt das Durchschnittsalter bei 51 Jahren, in der Kleinen Kammer bei 57 Jahren. Dieser Altersdurchschnitt ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend stabil geblieben beziehungsweise im Nationalrat nur leicht gesunken.

60% der Gewählten haben einen akademischen Abschluss. Der Anteil variiert jedoch stark von Partei zu Partei. Während der Akademikeranteil bei den Grünliberalen fast 90% beträgt, beträgt er in den Reihen der SVP 33%, wie eine Studie der Universität LausanneExterner Link über das sozio-professionelle Profil der Parlamentarierinnen und Parlamentarier zeigt.

In Bezug auf die Berufe bilden die Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier kein genaues Abbild der Gesellschaft. Neben Vollblutpolitiker:innen fällt der hohe Anteil an Manager:innen, Anwält:innen, Landwirt:innen oder Lehrpersonen auf. Das ist allerdings keine wirkliche Überraschung.  

Rechtsanwält:innen machen beispielsweise nur etwa 0,3% der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung aus, während sie im Parlament mehr als einen Zehntel der Sitze besetzen. Das Gleiche gilt für Landwirt:innen: Sie machen etwa 2% der Erwerbsbevölkerung aus, ihr Anteil in der Legislative liegt deutlich höher.

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In einer früheren Version des Artikels war die Anzahl Parlamentarier:innen nach Fraktion missverständlich dargestellt. Wir haben dies korrigiert.

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