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Die Schweiz im Wahljahr: Spiel auf Zeit

Parlament
Die Mitglieder der SVP-Fraktion im Nationalrat verfolgt die Debatte um die Neutralität im Nationalrat. © Keystone / Alessandro Della Valle

Der russische Krieg gegen die Ukraine zwingt die Schweiz zum Handeln. Das ist kompliziert für ein neutrales Land in einem Wahljahr. Eine Analyse.

Die Schweiz ist gefordert. Immer öfter muss sie ihren Partnern erklären, warum diese Waffen mit Schweizer Herkunft nicht an die Ukraine weitergeben dürfen. Immer weniger wird das goutiert.

Hilfe verhindern. Auch das ist ein Positionsbezug, also nicht neutral: So wird das im Ausland empfunden. Es ist ein Gedanke, der in der Märzsession des Schweizer Parlaments auch in der heimischen Politik Verbreitung fand.

Standhaftes Schweizer Nein

Es geht um Deutschland, Spanien und Dänemark. Diese Länder baten Bern um die Bewilligungen zur Weitergabe von Waffen oder Munition an die Ukraine. Die Antwort der Schweiz war jedes Mal ein standhaftes Nein. Dieses nahmen auch Frankreich und die USA, mithin die westliche Welt, zur Kenntnis, respektvoll zwar, aber widerwillig.

In der Frühlingssession suchte das Parlament nun einen neutralitätsverträglichen Ausweg aus dem Dilemma. Man fand ihn nicht.

Der Wille war da, von links bis rechts – mit Ausnahme eines Teils der Grünen und der gesamten SVP, die auf eine strikte Auslegung der Neutralität pocht. Es gab zwei Vorschläge, einer von rechts im Ständerat, einer von links im Nationalrat. Doch dann entfernten sich die Partner im Geiste, die FDP und die SP, voneinander. Statt in einem Kompromiss endete es in Taktiererei, dann im Patt.

Schielen auf die Wahlen

War bereits ein erstes Schielen auf die Wähler:innen im Spiel? Das Parlament wird im Oktober erneuert. Die Neutralität ist dem Schweizer Volk ein eiserner Wert. Wer diese vorschnell aufweicht, könnte im Herbst dafür die Quittung erhalten, diese Möglichkeit besteht.  

Das Resultat – keine Bewegung – entspricht aber durchaus dem Willen des Bundesrats. Denn auch die Regierung interpretiert die Neutralität entlang dem kürzlich angepassten Kriegsmaterialgesetz strikt konservativ.

International steht die Schweiz deshalb unter scharfer Beobachtung. Die “New York Times” entsandte eine Korrespondentin nach Bern. Im Brüten der Parlamentarier:innen über der Neutralitätsfrage ortete sie Weltfremde.

“In der Schweizer Hauptstadt, eingebettet zwischen schneebedeckten Bergen, in Räumen aus Buntglas und poliertem Holz, dreht sich die Debatte um das gepriesene Erbe der Neutralität des Landes – und darüber, was Neutralität in einer neuen Ära des Krieges für Europa überhaupt bedeutet”, schrieb sie.

Internationale Kritik

Das klang noch gutmütig. Daneben gab es auch deutliche Kritik, weil Bundespräsident Alain Berset von einem “Kriegsrausch in gewissen Kreisen” redete und sich für schnelle Verhandlungen mit Russland aussprach. Dazu wurde bekannt, dass die Schweiz derzeit Fliegerabwehr-Geräte verschrottet, obwohl diese in der Ukraine hervorragend genutzt werden könnten.

Auch alte Leopard-Panzer überlässt sie eher dem Rost als der deutschen Herstellerfirma Rheinmetall, die diese gerne zurückkaufen würde. Und bei den Sanktionen gegen Russland agiert das Land für einige nicht proaktiv genug.

Sonderfall Schweiz

Dies äussert der US-Botschafter in Bern. In einem Interview mit der NZZ fordert er von der Schweiz mehr Engagement beim Aufspüren von russischen Oligarchengeldern und bei der internationalen Kooperation für die Ukraine. “Die Vereinigten Staaten sind der Meinung, dass das Schweizer Parlament die Wiederausfuhr so bald wie möglich erlauben sollte”, sagte er, als schon feststand, dass das gescheitert war.

Als Sonderfall positioniert sich die Schweiz zudem traditionell gegenüber Europa und gegenüber dem Regime des Irans, auch wenn dies immer härter gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Auch hier gab es Vorstösse im Parlament.

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Der Nationalrat will, dass sich die Schweiz mehr für Irans Zivilbevölkerung einsetzt und das Regime härter sanktioniert. Der Ständerat aber will das nicht.

So bleibt nach dieser Session das Signal an die Welt in jedem Fall ähnlich: Erst mal Zeit vergehen lassen. Das Parlament kopiert die Regierung.

Ein weiterer Ausfluss des Kriegs gegen die Ukraine – aber auch der Schweizer Wunsch nach einer Energiewende: Das ist die Frage, wie sich die Schweiz künftig mit Energie versorgen soll.

Hier schlugen die Abgeordneten ein paar Pflöcke ein, Differenzen zwischen den beiden Räten aber bleiben. Der Neubau von Atomkraftwerken ist für die Schweiz keine Option mehr, auch wenn die Rechte dafür plädierte. Hingegen setzt die Schweiz vermehrt auf Wasserkraft. 15 Wasserkraftprojekte sind jetzt beschlossen. Auch Wind- und Solarenergie sollen stärker und schneller gefördert werden. Aber nicht auf Kosten von Biotopen und Reservaten, forderte der Nationalrat.

Dann die Rentenfinanzierung, ein Dauerbrenner. Bei der obligatorischen Altersvorsorge liegen zwei Volksinitiativen auf. Eine kommt von Links, sie will eine 13. Rentenauszahlung, analog zum 13. Monatslohn. Die andere kommt von Rechts, sie will das Rentenalter schrittweise höher setzen. Beiden erteilte das Parlament eine Abfuhr. Sie kommen nun vors Volk. Dieses hat gerade erst knapp die AHV-Revision mit der Erhöhung des Frauenrentenalters angenommen.

In der zweiten Rentensäule, der beruflichen Vorsorge, ist auch ein Schritt passiert. Die Pensionskassen brauchen wegen der Überalterung der Gesellschaft mehr Geld für die laufenden Renten. Das Parlament hat sich auf Grundzüge einer sachten Reform geeinigt. Künftige Rentner:innen erhalten dabei einen tieferen Rentensatz. Auch das könnte aber noch vors Volk kommen. Die Linke sieht darin zu viel Abbau.

Abgehakt werden kann die Agrarpolitik für die nächsten Jahre. Es ist eine ohne zusätzliche Klimaziele, eine im Sinne der Bauern.

Noch offen für die weitere Beratung bleiben einige weitere Geschäfte, unter anderem die Reform des Sexualstrafrechts. Hier beharrt der Ständerat auf dem Grundsatz “Nein heisst Nein”. Der Nationalrat beschloss zuletzt die “Nur ein Ja ist ein Ja”-Lösung, die Sex nur mit Zustimmung aller Beteiligten propagiert. Ein neuer Kompromissvorschlag des Ständerats kommt dieser Lösung nahe.

In den Zweitrat muss auch noch die bemerkenswerte Forderung, dass der Bund die Kosten der familienexternen Kinderbetreuung subventionieren soll. Der Nationalrat will ebendies. Der Ständerat wird sich noch äussern.

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