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So sieht die Schweizer Klimabewegung heute aus

Demo vor dem Hauptquartier der Weltgesundheitsorganisation
Mitglieder des Kollektivs Doctors for Extinction Rebellion demonstrieren im Mai 2021 vor dem Hauptquartier der Weltgesundheitsorganisation. Keystone / Martial Trezzini

Vor den eidgenössischen Wahlen mobilisieren sich Schweizer Klimaaktivist:innen. Neu wirkt ihr Verhältnis zur Politik weniger dogmatisch. Sie setzen zum Gang durch die Institutionen an.

Ende Januar starteten rund 40 Pflegekräfte aus dem Kanton Neuenburg unter dem Namen “Doctors for Extinction Rebellion” eine Aktion, um die Regierung auf die Gesundheitsrisiken aufmerksam zu machen, die der Klimawandel verursacht.

Sie versandten eine Vielzahl von Postkarten an die Behörden. Darauf regten sie an, gemeinsam für ein widerstandsfähigeres Gesundheitssystem zu kämpfen, das den Schutz aller Lebewesen berücksichtigt.

Die Initiative von “Doctors for Extinction Rebellion”, einem Ableger der Klimabewegung Extinction Rebellion, unterstreicht die wachsende Besorgnis von medizinischem Fachpersonal über die Folgen des Klimawandels.

Extinction Rebellion setzt seit Anfang Jahr auf eine neue Taktik, um das Interesse der Öffentlichkeit und Politiker:innen zu gewinnen: Ziel bleibt weiterhin, die Entscheidungszentren zu erreichen. Doch diesmal soll die Politik von innen heraus verändert werden.

Ziviler Ungehorsam sorgte in der Vergangenheit oft für negative Reaktionen. Handklebeaktionen von Umweltaktivist:innen auf Gemälden in mehreren europäischen Museen haben während den letzten Monaten hitzige Debatten ausgelöst.

Mehr Pragmatismus

In der Schweiz präsentiert Extinction Rebellion eine neue Herangehensweise, um auf Umweltprobleme aufmerksam zu machen: die Bildung von Bürger:innenversammlungen. Besonders in Genf fordern sie politische Parteien auf, diese Agoras kennenzulernen, wo die Bevölkerung ihre Wünsche, Ideen und Einwände zum Ausdruck bringen kann.

Laut Marco Giugni, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Genf, ist der Aktivismus heutzutage pragmatischer als in der Vergangenheit. Er sieht die Bewegungen weniger als Systemgegner:innen als früher.

“Während der ersten Anti-Atomkraft-Kämpfe gegen das AKW Kaiseraugst in den 1970er-Jahren war der Kampf vor allem ideologisch geprägt. Heute haben junge Menschen weniger Hemmungen, politische Verantwortung zu übernehmen, solange sie ihren Aktivismus ehrenhaft führen und sich angemessen verhalten”, sagt er.

Viele ehemalige Aktivist:innen, von denen einige noch immer aktiv sind, haben tatsächlich Sitze in kantonalen oder kommunalen Parlamenten errungen. Ein Beispiel dafür ist die Klimastreik-Bewegung, die 2018 auf Initiative der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg ins Leben gerufen wurde und bereits weitgehend die Türen der traditionellen politischen Instanzen durchbrochen hat.

Heikle Überschneidungen

Robin Augsburger, ein 25-jähriger Klimaaktivist aus La Chaux-de-Fonds im Kanton Neuenburg, betont jedoch, dass obwohl mehrere Mitglieder seiner Gruppe bei den Grünen, den Sozialdemokraten oder bei Solidarités Mitglied seien, die Mehrheit unabhängig bleibe.

Überraschenderweise haben auch Parteien der Mitte, wie die Grünliberalen, und der Rechten ehemalige Aktivist:innen in ihren Reihen. “Junge Liberaldemokraten hatten sich uns anfangs angeschlossen, aber die Covid-Ära hat unsere Reihen dezimiert”, sagt Augsburger.

Dieser politisch involvierte Aktivismus könne manchmal heikel sein, gibt er zu. Es sei schwierig, “das Handeln der offiziellen politischen Institutionen zu kritisieren, wenn dort Klimaaktivist:innen mitmachen”.

Aber angesichts der “sehr langsamen” politischen Aktionen ermögliche die Einreichung von Referenden und Motionen in den Parlamenten, die Dossiers voranzutreiben. Das dortige Parlament nahm mehrere Motionen der Neuenburger Sektion des Klimastreiks an, die den Kanton auffordern, für eine lebenswerte und gerechte Zukunft und nachhaltige Investitionen zu handeln.

An der Schnittstelle

Margot Chauderna, Co-Präsidentin der Jungen Grünen Schweiz, Mitglied des Freiburger Stadtparlaments und ehemaliges Mitglied des Feministischen Streiks, weist ebenfalls auf die Überschneidungen zwischen rebellischen Bewegungen und der politischen Klasse hin.

“Unsere Partei befindet sich an der Schnittstelle zwischen institutioneller Politik und radikaler Militanz, mit einem Fuss in den Parlamenten, einem anderen im Klimastreik, im Streik für die Zukunft, im feministischen Streik oder in Bewegungen, die zivilen Ungehorsam als Aktionsmittel nutzen.”

Demonstration vor dem Bundeshaus
Demonstration vor dem Bundeshaus in Bern anlässlich des weltweiten Klimastreiktags am 22. Oktober 2021. Keystone / Anthony Anex

Aktivist:innen setzen gezielt Aktionen gegen grosse Umweltverschmutzer, multinationale Konzerne und die Ultrareichen ein. Die politischen Auswirkungen der grossen Klimastreiks von 2019 sind bis heute spürbar.

In Genf, wo im April die Kantonsbehörden neu gewählt werden, treten Aktivist:innen wie Antoine Mayerat aus Enttäuschung über den Stillstand und dem Wunsch, etwas zu verändern, in den Wahlkampf ein, um einen Sitz im Parlament zu ergattern.

Die Beziehung zwischen der politischen Sphäre und den Bewegungen Extinction Rebellion, Climate Strike und Renovate Switzerland sind gleichzeitig eng und distanziert. Ein Teil der engagierten Jugend hegt Misstrauen gegenüber der institutionellen Politik, was zu Entpolitisierung führen kann.

Renovate Switzerland ist eine Bewegung von etwa hundert in der Schweiz aktiven Personen, deren Credo der gewaltfreie zivile Widerstand ist. Sprecherin Cécile Bessire betont, dass es eine “Frage des Überlebens ist, wenn die institutionelle Politik nicht in der Lage ist, die Notlage zu bewältigen”.

Sie gibt keine Wahlempfehlungen für die eidgenössischen Wahlen, wird jedoch wählen gehen, wie sie betont. Bessire hat jedoch noch nicht entschieden, welche Partei sie unterstützen wird.

Grenzen des Systems

Das Misstrauen gegenüber der Politik ist bei den “Doctors for Extinction Rebellion” noch stärker spürbar. Das Kollektiv engagiert sich seit anderthalb Jahren aktiv im lokalen Leben, jedoch erklärt es anonym, dass es kein Interesse an Wahlen habe. Denn es sei der Ansicht, dass die gewählte Demokratie ihre Grenzen erreicht habe.

Ihrer Meinung nach sind die politischen Institutionen nicht in der Lage, mutige und notwendige Entscheidungen im Interesse der Bevölkerung zu treffen, da sie von Lobbys gehemmt seien und dem Wunsch, wiedergewählt zu werden.

Stattdessen will die Gruppe Druck von aussen ausüben, ohne spezifische Kontakte zu nutzen. Die Aktivist:innen in weissen Kitteln sind überzeugt, dass das politische System verändert werden muss und erachten Bürger:innenkammern oder Bürger:innenversammlungen für die beste Option.

Sie hoffen, dass mehr Initiativen in Gemeinden und Kantonen entstehen und dass dies auch auf Bundesebene geschieht. Nur so könne eine gute Richtung eingeschlagen werden.

Trotz Teilnahme an politischen Versammlungen werden junge Klimaschützer:innen in den kommenden Monaten auch weiterhin die Strasse als bevorzugtes Kampffeld nutzen. Im Lauf des Wahljahrs sind mehrere grosse Veranstaltungen geplant, darunter auch Klimademonstrationen.

Die Wissenschaftlerin Julia Steinberger, Mitverfasserin des letzten Berichts des Weltklimarats (IPCC), bereitet für April zusammen mit anderen Aktivist:innen einen “Marche bleue” durch die Westschweiz bis nach Bern vor. Der Höhepunkt soll eine Kundgebung unter den Fenstern des Bundeshauses sein, dem Machtzentrum der Schweizer Politik.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin May Elmahdi Lichtsteiner

Wie kann ein Wandel in der Klimapolitik bewirkt werden?

Die Aktionen der Umweltbewegung scheinen in der breiten Bevölkerung oft Unverständnis auszulösen. Was ist Ihre Meinung?

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Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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