Die grüne Welle in der Schweiz ebbt ab
Bei den eidgenössischen Wahlen 2019 waren die Grünen die grossen Gewinner:innen – jetzt verlieren sie an Schub, wie das zweite Wahlbarometer der SRG SSR zeigt. Und das, obwohl der Klimawandel weiterhin zuoberst auf dem Sorgenbarometer der Schweizer:innen steht.
Noch zeichnen sich keine Gewinner:innen der Wahlen vom 22. Oktober ab. Die linken Grünen könnten jedoch die grossen Verlierer:innen werden: Gemäss dem zweiten Wahlbarometer des Forschungsinstituts Sotomo würde die Partei im Vergleich zu den letzten Wahlen derzeit 2,5 Prozentpunkte verlieren. Damit hat sich der prognostizierte Verlust seit der ersten Umfrage im Oktober noch verstärkt. Noch immer aber schneidet die Partei besser ab als vor der grünen Welle 2019Externer Link.
Die bürgerliche Grünliberale Partei GLP stagniert und kann die Verluste im ökologischen Lager nicht ausgleichen. Politologe Michael Hermann, Leiter des Sotomo-Instituts, analysiert die aktuelle Lage so: «Der Rückgang der Grünen lässt sich durch eine gewisse Demobilisierung in Bezug auf den Klimawandel erklären: Die Begeisterung, die vor vier Jahren durch die Schülerstreiks für den Klimaschutz ausgelöst wurde, ist abgeflaut.»
Trotz des geringeren Enthusiasmus für das Thema bleibt die globale Erwärmung die unangefochtene Hauptsorge der Schweizer:innen. 42% der Wählenden sind nach wie vor der Meinung, dass der Klimawandel die grösste Herausforderung für das Land darstellt.
Eine andere Partei hat es jedoch geschafft, sich ebenfalls in dieser Frage zu profilieren: die links positionierte Sozialdemokratische Partei SP. «Sie hat einen Teil ihrer Wähler:innen, die 2019 zu den Grünen gewechselt sind, zurückgewonnen», sagt Michael Hermann. Nachdem die SP in den letzten Jahren stets Wähleranteile verloren hat, deutet sich eine Trendwende an. Das Wahlbarometer sagt einen Gewinn eines Prozentpunktes voraus. Damit dürfte die SP ihren Platz als zweitstärkste politische Kraft des Landes verteidigen.
Das zweite Wahlbarometer der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR, zu der auch swissinfo.ch gehört, wurde vom Forschungsinstitut Sotomo durchgeführt. Grundlage sind Umfragedaten, die zwischen dem 20. Februar und dem 5. März gesammelt wurden. 27’058 Wahlberechtigte haben an der Umfrage teilgenommen, einerseits auf den Internetportalen der SRG, andererseits auf der Website von Sotomo. Die Fehlermarge beträgt +/- 1,2 Prozentpunkte.
Da sich die Teilnehmer:innen der Umfrage selbst rekrutieren (Opt-in-Verfahren), ist die Zusammensetzung der Stichprobe nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Beispielsweise nehmen an politischen Umfragen in der Regel mehr Männer als Frauen teil. Die Verzerrungen der Stichprobe werden durch statistische Gewichtungsverfahren korrigiert.
Die Migrationsfrage gewinnt an Bedeutung
Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei SVP legt laut Prognose ebenfalls einen Prozentpunkt zu und bewahrt damit ihren Status als stärkste Partei der Schweiz. Das SVP-Kernthema der Einwanderung spielt der Partei in die Hände. Es ist im laufenden Jahr zum zweitwichtigsten Anliegen der Wähler:innen aufgestiegen.
Die Schweiz sieht sich mit einem deutlichen Anstieg der Asylanträge konfrontiert und die wirtschaftliche Erholung nach einer Pandemie lässt zehntausende Arbeitskräfte aus den Ländern der Europäischen Union in die Schweiz strömen.
Die Situation ist allerdings nicht vergleichbar mit 2015, als die SVP einen Rekordzuwachs erzielte. «Damals hatte die Debatte um die Masseneinwanderungsinitiative, die syrische Flüchtlingskrise oder das Attentat auf Charlie Hebdo dazu geführt, dass das Thema Migration die anderen Themen in den Schatten stellte. Davon sind wir weit entfernt», stellt Michael Hermann fest.
Die insgesamt positivere Einstellung gegenüber Migrant:innen lässt sich auch durch den Mangel an Arbeitskräften in der Schweiz erklären. Arbeitslosigkeit und Löhne sind laut Wahlbarometer nur für 4% der Befragten eine zentrale Sorge. Ein anderes Wahlkampfthema der SVP, ihr Kampf gegen die Woke-Welle, scheint weniger zu verfangen: Nur 11% der Wählerschaft finden die Problematik wichtig.
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Keine Umwälzungen in Sicht
Trotz dieser Veränderungen dürfte bei den Wahlen im Herbst laut der zweiten SRG-Umfrage keine Partei signifikant zulegen. Die politische Stabilität in der Schweiz bleibt somit weiterhin gewahrt, auch wenn die Zahlen eine leichte Verschiebung nach rechts andeuten.
Die Umfrage wurde allerdings noch vor der Bekanntgabe der Zwangsübernahme der Credit Suisse durch die UBS durchgeführt, mit der ein katastrophaler Banken-Bankrott abgewendet werden konnte.
Die mit Garantien des Bundes durchgeführte Transaktion ist aktuell in aller Munde. «Sie hat jedoch nicht das emotionale Potenzial, die politischen Gleichgewichte zu verändern», meint die Sotomo-Politologin Sarah Bütikofer. Die Thematik werde keines der wichtigsten Anliegen der Bürger:innen werden.
Wenn jemand aus dem Erdbeben im Bankensektor Gewinn schlagen sollte, dann die Linke. «Die SP könnte davon profitieren und sich mit dem Thema auf Kosten der Rechten, aber auch der Grünen profilieren», meint Michael Hermann.
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Die Fünfte Schweiz hat andere Sorgen
Die Umfrage zeigt auch, dass die Auslandschweizer:innen die Herausforderungen der Schweiz anders beurteilen. Sie halten insbesondere die soziale Sicherheit, die Unabhängigkeit und die Souveränität für wichtiger als die inländische Wählerschaft. Für die Fünfte Schweiz sind diese Themen fast so bedeutend wie der Klimawandel.
Gleichzeitig messen die Auslandschweizer:innen der Reform der Altersvorsorge weniger Bedeutung bei.
Die Resultate des ersten Wahlbarometers vom vergangenen Oktober finden Sie hier:
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Schweiz bleibt politisch stabil, trotz vieler Krisen
Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger.
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