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«Die SVP wird mit ihrem Kampf gegen den ‹Wokismus› nicht viele Stimmen gewinnen»

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) stellte im Januar in Zürich ihr neues Programm vor. © Keystone / Michael Buholzer

Zu Beginn des Wahljahres hat die Schweizerische Volkspartei dem "Wokismus" den Kampf angesagt. Ein aus dem Ausland importiertes Thema, mit dem man zwar Lärm machen, aber keine Wahlen gewinnen kann, so Analyst:innen.

Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) hat im Hinblick auf die eidgenössischen Wahlen im Jahr 2023 ein neues Kapitel ins Parteiprogramm aufgenommen: Sie will den «Genderterror» und «Woke-Wahnsinn» bekämpfen.

«Die Partei ist entschieden gegen eine woke Gesellschaft, in der eine kleine, intolerante Minderheit bestimmen will, wie sich die Mehrheit zu verhalten hat», erklärte Esther Friedli, die für das Programm zuständige Parlamentarierin. Gegenüber dem Tages-Anzeiger sagte sie, die SVP wolle die Gleichstellungsbüros abschaffen und inklusive Schreibweisen bekämpfen.

Der Anti-Wokismus ist sogar zum Steckenpferd der Jungen SVP geworden, die mit Aktionen gegen die «Woke-Demenz» auf sich aufmerksam macht. Letztes Jahr rief die Jungpartei dazu auf, die Grossbank UBS wegen ihrer Verwendung der inklusiven Sprache zu boykottieren. Und sie versprach, jedem, der zum Coiffeur gehe und sich die Haare blond färben lasse, die Rechnung zu zahlen. Dies als Reaktion auf die Äusserung einer amerikanischen Universitätsprofessorin, wer sich die Haare blond färbe, eigne sich einen sozialen Status an.

Esther Friedli, die Programmverantwortliche der SVP, startet einen Kreuzzug gegen den Wokismus. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Woke, ein abgewandelter Begriff

Solche Debatten stossen in den Medien und sozialen Netzwerken auf grosses Interesse. Aber was ist mit «woke» genau gemeint?

Der Begriff stammt vom englischen Wort «awake», was «wach» bedeutet. Der Ausdruck entstand in den 1950er-Jahren im Zuge der antirassistischen Proteste in den USA und bezeichnet ursprünglich eine Person, die sich sozialer Probleme und insbesondere des Rassismus bewusst ist. Er wurde von der Anti-Rassismus-Bewegung Black Lives Matter populär gemacht, die ihn als Slogan verwendete. 

«In den USA wurde der Begriff schnell missbraucht, um den Kampf gegen Diskriminierung zu verunglimpfen», erklärt Alex Mahoudeau, Doktorin der Politikwissenschaft und Autorin eines Buches mit dem Titel «La Panique woke» (Die Woke Panik). Laut Mahoudeau wurde der Begriff später von konservativen Kreisen nach Europa importiert. Insbesondere tauchte er 2021 in Frankreich auf. «Die Debatte kommt nun mit etwas Verspätung in der Schweiz an», so Mahoudeau.

Derzeit werde der Begriff Wokismus nur von der konservativen Rechten verwendet, als Bezeichnung für Feminist:innen, Antirassist:innen, Trans- oder Homosexuelle. Ihrer Meinung nach ist das jedoch nichts Neues: «Es handelt sich um den Diskurs der konservativen Rechten, wie er schon immer existiert hat. Früher nannte man das Gutmenschentum oder Political Correctness.»

Alex Mahoudeau hält den Wokismus jedoch für eine wirksame sprachliche Innovation: «Die konservative Rechte hat es geschafft, einen Begriff zu schmieden, der die Menschen zusammenfasst, die sie nicht mag. Das ermöglicht es ihr, sich gegenüber amerikanischen Innovationen als Hüterin der europäischen Identität darzustellen, obwohl sie selbst diesen Begriff aus den USA importiert hat.»

Schweizer:innen haben andere Sorgen

Mit dieser Strategie hat die SVP, die mit Abstand grösste Partei der Schweiz, sicherlich Aufmerksamkeit generiert. Aber lässt sich das in Erfolg ummünzen?

«Die SVP dürfte mit ihrem Kampf gegen den Wokismus bei den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober nicht viele Stimmen gewinnen», meint der Politologe Sean Müller. Er räumt ein, dass die inklusive Schreibweise oder die politische Korrektheit manche Menschen verärgert, aber das reiche nicht aus, um sie zu einer Änderung ihrer politischen Meinung zu bewegen. 

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Toleranz und Zusammenleben gehören nicht zu den wichtigsten Themen, welche die Schweizer Bevölkerung beschäftigen. Im Jahr 2022 belegten diese Themen nur den 20. Platz im Sorgenbarometer, das jedes Jahr von der Bank Credit Suisse veröffentlicht wird.

An erster Stelle stand der Klimawandel und an zweiter Stelle die Altersvorsorge. «In den USA ist die Debatte um die Probleme des Rassismus viel brennender», so Müller. Mit den vielen Fällen, in denen weisse Polizisten schwarze Menschen getötet hätten, beruhe die Debatte auf konkreten Ereignissen.

Laut Müller geniesst die Schweiz eine hohe politische Stabilität. Nur bei wichtigen Ereignissen würden die eidgenössischen Wahlen die politischen Kräfte verschieben. «Die Migrationskrise im Jahr 2015 beispielsweise hat der SVP zu einem Zuwachs verholfen», so Müller. Angesichts des erneuten Anstiegs der Migration in Europa glaubt er daher, dass die Rechtskonservativen ihre Kampagne eher wieder auf ihr Hauptthema Einwanderung ausrichten werden.

Mobilisierung der Basis

«Der Anti-Wokismus bringt der SVP zwar keine Stimmen, ermöglicht ihr aber, ihre Basis zu mobilisieren», sagt Müller. Bereits jetzt gelinge es der Partei jedoch am besten, mit ihren traditionellen Themen Sympathisant:innen zu aktivieren. «Da wir uns am Anfang des Wahljahres befinden, haben die Rechtskonservativen diese Debatte wohl als Test lanciert, um zu sehen, welche Diskussionen aufkommen», so Müller.

Die anderen Parteien haben bislang nicht auf die von der konservativen Rechten angestossene Debatte über Wokismus reagiert. Die Sozialdemokratische Partei (SP) wird das Thema wohl eher meiden, um die internen Spaltungen rund um das Thema Gleichstellung nicht öffentlich zu machen. Ende 2022 hatte sich SP-Ständerat Daniel Jositsch um die Nachfolge von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga beworben, obwohl die Parteileitung nur weibliche Kandidatinnen aufstellen wollte – und damit manche in seiner Partei verärgert.

Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi

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