Schweizervereine blicken zurück: Als Schweizer Fachkräfte nach Marseille auswanderten
Die Schweizervereine in Frankreich haben sich Ende April in Marseille zu ihrem 64. Kongress versammelt. Das Jahrestreffen bot die Gelegenheit, an die lange Geschichte zu erinnern, die die Schweiz mit der Stadt am Mittelmeer verbindet. Thema war aber auch ein drei Jahre altes Projekt, das lange Zeit die Gemüter erhitzt hatte.
Freitag, 26. April: Der Saal, in dem die Konferenz über Schweizer:innen in Marseille stattfindet, sieht aus wie viele andere. Er ist nüchtern, grau und ohne Seele. Die Langeweile, die der Raum ausstrahlt, steht im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, die die rund 40 Präsident:innen der Schweizervereine in Frankreich dem Vortrag widmen.
Am Rednerpult präsentiert die Fremdenführerin Paola Ceresetti mit Enthusiasmus und einem Hauch von italienischem Akzent die jahrhundertealte Geschichte, die die Schweiz mit Marseille verbindet. „Die Geschichte der Schweizer in Marseille ist nicht sehr bekannt. Dabei haben sie viele Spuren hinterlassen», beginnt sie.
Ab dem Ende des 16. Jahrhunderts
Als offenes Tor zur Welt hat die Stadt Marseille schon immer eine grosse Anzahl von Migrant:innen angezogen. Auch auf Schweizer:innen wirkte diese Anziehungskraft: Ende des 16. Jahrhunderts kam eine grosse Schweizer Gemeinschaft in die Stadt.
Im Gegensatz zu anderen ausländischen Gruppen waren die Schweizer:innen oft qualifizierte Arbeitskräfte und erwarben sich schnell einen guten Ruf. Sie eroberten sich einen Platz an der Sonne im Handelsgeschäft, so dass am Ende des Jahrhunderts 171 Schweizer (davon 157 Protestanten) unter den 489 Händlern der Stadt waren.
Mit dem Erlass von Fontainebleau aus dem Jahr 1685 verbot König Ludwig XIV. die protestantische Religion in Frankreich. Die helvetischen, mehrheitlich protestantischen Kaufleute waren jedoch wirtschaftlich so wichtig für die Stadt, dass die Obrigkeit ihre Anwesenheit duldete.
Eine der wichtigsten Schweizer Kaufmannsfamilien, die Zollikofer aus St. Gallen, französierte ihren Namen in Solicoffre, um weniger aufzufallen. Die Nationalität wechselten die meisten jedoch nie. Die Familien bleiben über Generationen hinweg Schweizer:innen.
Auch andere Schweizer Fachkräfte tauchten in Marseille auf, wie die Bildhauer und Marmorierer aus dem Tessin. Marseille war ein Zentrum für Steinmetze. Sie hinterliessen ihre Spuren an verschiedenen Orten in der Stadt, z. B. mit einem Brunnen und Altären oder Statuen, die den unteren Teil der Treppen des Bahnhofs Saint-Charles (Hauptbahnhof von Marseille) schmücken.
Aufgrund der Bedeutung der lokalen Gemeinschaft eröffnete die Eidgenossenschaft 1799 das Schweizer Konsulat in Marseille, direkt nach dem ersten in Bordeaux ein Jahr zuvor.
Das goldene Zeitalter
Das 19. Jahrhundert markiert das goldene Zeitalter des Hafens von Marseille, der sich stark entwickelte. Aber auch das der Schweizer:innen, die kamen, blieben oder weiterzogen. Vor allem Frauen kommen in dieser Zeit immer zahlreicher, oft allein. Bis zum Ersten Weltkrieg stellen sie sogar die Mehrheit.
Damals erreichten viele Schweizer:innen Marseille mit dem Ziel, von dort aus nach Amerika zu reisen. Für viele von ihnen endete die Reise jedoch an der Mittelmeerküste, entweder weil ihnen das Geld für die Weiterreise fehlte oder weil sie in der Stadt eine Anstellung fanden und sich dauerhaft niederliessen.
Als zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1920er-Jahren Tausende von Schweizer:innen in die Stadt kamen, gründeten sie Vereine. Sie wollten so die helvetische Identität bewahren und den guten Ruf, den sie sich im Laufe der Jahrhunderte erworben hatten und der für den Wohlstand der Gemeinschaft stand.
So entstanden die noch heute bestehende Stiftung Helvetia-Massilia, der Cercle Commercial Suisse, die Fussballmannschaft Stade Helvétique, die Harmonie Suisse und der Turnverein Société de Gymnastique des Suisses de Marseille.
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Rückkehr in ein neutrales Land
Während des Zweiten Weltkriegs erlebte die helvetische Diaspora einen Rückgang. Marseille, das bis 1942 in der freien – nicht von den Deutschen besetzten – Zone lag, war eine Zufluchtsstadt, die es ermöglichte, noch weiter weg zu emigrieren. Sehr viele Schweizer Familien entschieden sich stattdessen für die Rückkehr in ihr neutrales und freies Heimatland.
Eine der grossen Figuren der Résistance in Marseille war schweizerischer Herkunft. Berthe Albrecht Wild, Schweizerin durch ihren Vater, ist eine der sechs Frauen, die zum CompagnonExterner Link de la Libération ernannt wurden. General de Gaulle hatte den Ordre de la Libération 1940 ins Leben gerufen, um Personen oder militärische und zivile Körperschaften auszuzeichnen, die sich im Werk der Befreiung Frankreichs und seines Reiches hervorgetan haben.
Eine der letzten helvetischen Spuren in der Geschichte der Stadt Marseille ist die Cité radieuse, der Prototyp einer neuen sozialen Wohnform, die vom Architekten Le Corbusier erdacht wurde. Sie ist zwar eines der am meisten geschmähten Gebäude der Stadt, wurde aber auch zu einem der emblematischsten.
Heute leben rund 5000 Schweizer:innen in Marseille und sind dort beim Konsulat registriert, doch die tatsächliche Zahl dürfte mindestens dreimal so hoch sein.
Umstrittenes Projekt
Samstag, 27. April: Der zweite Tag des Kongresses der Union der Schweizervereine in Frankreich (UASF) findet im selben Konferenzsaal statt wie am Vortag. Die Stimmung ist jedoch eine ganz andere.
Zu Beginn der Generalversammlung gab es zwar gute Nachrichten, wie die steigende Mitgliederzahl in mehreren Vereinen (Montpellier, Bordeaux, Pays de Gex und Annemasse) oder die Gründung und Mitgliedschaft der Amicale des Suisses de Loire et Haute-Loire. Doch als Punkt 7.2 der Tagesordnung „Vergabe eines Studentenstipendiums“ aufgerufen wurde, verzogen viele das Gesicht.
Das von der Präsidentin der UASF, Françoise Millet-Leroux, 2022 ins Leben gerufene Projekt zielt darauf ab, ein Stipendium an einen Studenten oder eine Studentin aus der Schweiz zu vergeben, der:die Mitglied eines der UASF angeschlossenen Clubs ist und ein Hochschulstudium in der Schweiz absolvieren möchte. Ziel ist es, junge Menschen zu motivieren, in Clubs einzutreten, um diese zu verjüngen.
Die um einige Elemente reduzierte Idee wurde schon zum dritten Mal in Folge auf den Tisch gelegt. Maggy-Laure Giorgini, die Präsidentin des Schweizerclubs Pays de Gex, sagte: «Ich denke, die UASF sollte zuerst die ihr angeschlossenen Vereine finanziell unterstützen und nicht einen hypothetischen Studenten“. Mehrere Köpfe nicken in den Reihen.
Neben Françoise Millet-Leroux verteidigen auch mehrere Vereinsvorsitzende das Projekt. «Es ist wichtig, dass die UASF ihre soziale Tradition fortsetzt“, sagt Paolo Lupo, Präsident von Genevois sans frontières. «Dieses Projekt könnte mobilisieren und langfristig Jugendliche wiederfinden“, meint Jean-Michel Begey von der Schweizer Gesellschaft Bordeaux. Und Daniel Fau, Präsident der Schweizer Gesellschaft Besançon, schloss mit der Frage: «Ist es die Aufgabe der UASF, die Finanzen ihrer Mitglieder zu überbrücken?»
Bei der Abstimmung wurde der neue Entwurf schliesslich mit 38 zu 4 Stimmen angenommen.
Die Stimme von Maggy-Laure Giorgini ertönte zum letzten Mal: «Ich kündige Ihnen an, ich die Schritte einleiten werde, damit der Verein Pays de Gex die UASF verlässt.»
Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger
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