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CH/Geschworenengerichte: 2011 verschwindet ein Stück Justizkultur

Zürich (awp/sda) – Ab kommendem Jahr gibt es in der Schweiz keine Geschworenengerichte (GG) mehr. Die neue eidg. Strafprozessordnung erlaubt ihren Einsatz nicht. Mit der Abschaffung verschwindet auch die für das Publikum besonders interessante totale Unmittelbarkeit im Verfahren.
Noch einige Monate lang gibt es Geschworenengerichte in den Kantonen Genf, Neuenburg, Tessin und Zürich. Laien und Berufsrichter befassen sich dort teils wochenlang mit einem Fall – immer geht es um schwere Delikte. Das GG Zürich ist ein Beispiel für dieses Stück “Justizkultur”, das nun verschwindet.
Das Besondere am GG-Prozess ist, dass nur der Gerichtsvorsitzende und der Gerichtsschreiber die Akten kennen, nicht aber die beiden Beisitzer – Bezirksrichter – und die neun Geschworenen. Sie erfahren wie das Publikum alles erst aus den Befragungen von Angeklagten, Zeugen und Experten. Denn sämtliche Beweise werden vor Gericht abgenommen.
Mit der neuen Strafprozessordnung (StPO) ist das aber nicht mehr kompatibel, erklärt der Zürcher GG-Präsident Pierre Martin. Die StPO schreibe nämlich vor, dass sämtliche Personen, die an einem Urteil mitwirken, die Akten kennen.
Künftig werden deshalb alle Fälle erstinstanzlich von den Bezirksgerichten beurteilt. Martin zweifelt nicht an den Fähigkeiten der “Landrichter”, sondern befürchtet fehlende Kapazitäten.
Auch wenn er es persönlich sehr bedauert – dass die GG abgeschafft werden, dafür hat Martin grundsätzlich Verständnis. Gleich wie etwa Staatsanwalt Ulrich Weder, der häufig am GG auftritt.
Beide hätten aber die Schaffung eines kantonalen Kriminalgerichts mit dem nötigen Know-how für schwere Gewalt-, Drogen- oder Wirtschaftsdelikte gewünscht. Ein solches hatte aber politisch keine Chance.
Vermissen werde er vor allem die Zeit, die man sich für die Urteile nehmen könne, bei denen es ja häufig um langjährige Strafen gehe, sagt Martin. Bevor die Geschworenen und Berufsrichter über Schuld- oder Freispruch und über das Strafmass urteilen, gehen sie alles akribisch Punkt für Punkt durch und am Schluss habe man ein Urteil, hinter dem 12 Personen “mehr oder weniger stehen”.
Genau diese Urteilsfindung achtet auch Staatsanwalt Weder hoch. Er habe “nie ein so gutes Gewissen bei einem Urteil”, wie bei einem GG-Verfahren – auch wenn er etwa mit einem Strafmass nicht einverstanden sei.
Weder findet seine Tätigkeit als Anklagevertreter im unmittelbaren Verfahren vor Geschworenengericht deutlich interessanter als bei einem Aktenprozess. Die Kehrseite sei der extrem höhere Aufwand. Zudem sei ein GG-Prozess weniger berechenbar: Immer wieder gebe es Überraschungen. Fragen, die in der Untersuchung kaum eine Rolle spielten, rückten plötzlich ins Zentrum und umgekehrt.
Seitens der Verteidigung bezeichnet Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth das GG als “das Highlight für jeden Anwalt” und “das Spannendste, was es gibt”.
Fingerhuth findet die Abschaffung denn auch “extrem schade”. Er hofft, dass mit der neuen StPO ein Stück der Unmittelbarkeit auch in die künftigen Prozesse einfliessen kann. Denn wenn Aussage gegen Aussage stehe, sei es wichtig, die Personen “nochmals zu hören”.
Auch Gerichts-Dolmetscher Mladen J. Sirol schätzt das Unmittelbarkeitsprinzip: Es gewährt Einblick in verschiedenste Fachgebiete – vom Gerichtsmediziner über den Ballistiker und den Spurensicherer bis hin zum Psychiater. Sicher nicht vermissen werde er dagegen die oft wochenlange Dauer der Prozesse, sagt Sirol.
Für GG-Präsident Martin persönlich wäre die GG-Zeit auch ohne die Abschaffung dieser Gerichtsform abgelaufen: Nach sechs Jahren als stellvertretender Präsident und sechs Jahren als Präsident gibt er das Amt gerne ab und beschränkt sich auf die Tätigkeit als Oberrichter.
Während der Prozesse stehe man “im Schaufenster”, der Druck sei enorm, sagt er. Und man sei sich immer bewusst: Ein Fehler kann eine Rückweisung des Falles zur Folge haben – und eine Wiederholung des Prozesses ist sehr aufwendig.

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