Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wo Wölfli lernen, nicht mit den Wölfen zu heulen

"KanderJam": Pfadis aus aller Welt tauschen in Kandersteg Abzeichen. Keystone

Vor 100 Jahren führte der britische Lord Robert Baden-Powell das erste Pfadfinder-Lager durch. Seither gingen schätzungsweise 300 Mio. Menschen durch diese Schule des Lebens.

Sie sind immer noch Wölfli, Pfadi, Pioniere und Rover. Für die Pfadis von heute stehen nicht militärische Tugenden im Vordergrund, sondern soziale Kompetenzen, sagt die ehemals höchste Pfadfinderin der Schweiz.

In der Schweiz sind 50’000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Pfadfinder, weltweit 38 Millionen.

In internationalen Lagern zeigten jüngst tausende junge Pfadis aus aller Welt, dass die Idee des britischen Gründers Lord Robert Baden-Powell weiter lebt.

Ein solches Jamboree fand in Kandersteg im Berner Oberland statt: Am “KanderJam” zum 100-Jahr-Jubiläum nahmen fast 2000 Pfader und Pfaderinnen aus 40 Ländern teil.

Was stellt die Pfadi für diese und viele andere Kinder und Jugendliche dar? swissinfo sprach darüber mit Katharina Kalcsics. Sie war von 1999 bis 2003 als Bundesleiterin höchste Pfadfinderin der Schweiz. Heute ist die Historikerin Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern.

swissinfo: Kinder und Jugendliche wollen heute “coole” Kleider tragen. Ist die Pfadi-Uniform “cool”?

Katharina Kalcsics: Pfadi-Jugendliche tragen die Uniform cool. Namentlich das Hemd wird trotz gleicher Grundfarbe als etwas sehr Individuelles angesehen. Mit all den Abzeichen von Lagern und gemeinsamen Aktionen ist keines gleich wie das andere.

Würden wir die Uniform heute abschaffen, hätten wir das grösste Problem! Für die Jugendlichen ist es “ihr Pfadigewand”, ein gemeinsames Erkennungszeichen, das sie tragen, wenn sie unterwegs sind. Wer die Uniform nicht schätzt, hat Alternantiven mit T-Shirts oder ist wahrscheinlich nicht sehr lange dabei.

swissinfo: Die Pfadi ist eine “Sozialisation auf dem Abenteuerspielplatz”. Funktioniert das heute noch?

K.K.: Es gibt nach wie vor genügend junge Menschen, die gern Pfadi machen. Es sind oft Pfadfinder, die sich mehr als andere engagieren, in der Freizeit, in der Ausbildung. An unserer Fachhochschule höre ich oft: “Das hab ich in der Pfadi gelernt, das möchte ich nicht missen.”

Wie bei anderen Jugendbewegungen geht die Mitgliederzahl aber zurück, von da her funktioniert es nicht. Aber für jene, die dabei sind, funktioniert es.

swissinfo: Braucht es neue Konzepte, damit sich die Pfadi auf dem Markt der Freizeitangebote für Jugendliche weiter behaupten kann?

K.K.: Ja. Zwar sind die Grundlagen und die Überzeugungen hinter der Pfadfinder-Idee absolut aktuell: Gemeinsam Ideen entwickeln und umsetzen, Achtung voreinander und vor der Natur haben.

Wir müssen Wege finden, wie wir mehr Jugendlichen und Kindern aufzeigen können, was sie in der Pfadi für eine Qualität erleben können.

Eine Idee ist beispielsweise: An den Schulen, die in den nächsten Jahren vermehrt auf Tagesstrukturen setzen, das Angebot der Pfadi zu platzieren. Für sie könnte die Pfadi bei der Betreuung eine willkommene Partnerin sein.

swissinfo: Ex-Crossair-Boss Moritz Suter, Staatssekretär David Syz, alt Bundesrat Rudolf Friedrich, die Zürcher Ständerätin Trix Heberlein oder der Sänger Polo Hofer waren Pfadfinder. Ist die Pfadi auch Kaderschmiede?

K.K.: Wenn man Kaderschmiede positiv definiert, ja (lacht). Sie ist ein Lernfeld, auszuprobieren, wie es mir in einer Gruppe geht. Wie kann ich meine Ideen einbringen und gleichzeitig die anderen respektieren? Wie kommen wir gemeinsam vorwärts?

Egal, wo man später ist, ob in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft oder im Showbusiness: Man kann auf einen Erfahrungsschatz bauen, der sich fürs Weiterkommen auszahlt. Bei der Lehrstellensuche haben Jugendliche oft bessere Karten, wenn sie sich freiwillig engagiert haben, nicht nur bei der Pfadi.

swissinfo: Ein Grundsatz der Pfadi ist auch die Integration nach dem Motto “jeder und jede kann etwas gut”. Klappt es auch mit der Integration von jungen Ausländern?

K.K.: Die Pfadi bekennt sich zum Ziel der Integration von ausländischen Jugendlichen. Sie hat auch kleinere Erfolge erzielt. Aber es gibt viele Enttäuschungen. Zwar werden junge Leiterinnen und Leiter begleitet, aber sie stossen in ihren Bemühungen oft an ihre Grenzen.

Integrationsarbeit ist mühsam, und oft scheitert sie. Gäbe es einfache Lösungen, hätten sie andere schon gefunden.

swissinfo: Die politische Rechte spricht von vermehrter Jugendgewalt. Spüren sie eine solche auch in der Pfadi?

K.K.: Glücklicherweise ist interne Gewalt unter Jugendlichen selten. Die Möglichkeit zu haben, selber etwas durchzuziehen, ist eine gewisse Prävention. Wir fragen uns aber, was unser gesellschaftlicher Auftrag in Sachen Gewaltprävention sein könnte.

Pfadis benehmen sich wie andere Jugendliche. Am Pfadi-Folkfest, einem kürzlichen Open Air-Konzert, brachten sie beispielsweise Einkaufswagen nicht mehr in den Supermarkt zurück. Andere durften diese dann einsammeln.

swissinfo: Sie waren lange aktiv bis hinauf zur höchsten Pfadfinderin der Schweiz. Wie sieht das heutige “Frauenbild” in der Pfadi aus?

K.K.: Stark, selbstebewusst und bereit zur Partnerschaft. Seit 1987 gibt es in der Schweiz nur noch einen Verband, Mädchen und Knaben machen also am Samstag gemeinsam Pfadi. In einigen Ländern ist dies aber aus gesellschaftlichen Gründen nicht möglich.

Sind die Gruppen gemischt, ist auch das Leitungsteam gemischt, die Vorbildrolle ist bei der Pfadi ein wichtiges Prinzip. Teils finden die Programme für Mädchen und Knaben getrennt statt, teils zusammen.

Im Verband gibt es auf Ebene der Kantons- wie der Bundesleitung immer Doppelbesetzungen. Wir wollen auf allen Ebenen alle Geschlechter. Momentan sind an der Verbandsspitze die Frauen in der Überzahl.

swissinfo-Interview, Renat Künzi

Die vier Pfadistufen:
8 bis 11 Jahre: Bienli und Wölfe
11 bis 15 Jahre: Pfadi
15 bis 18 Jahre: Pioniere
ab 18 Jahre: Rover und Leiter
Für Kinder mit einer Behinderung gibt es die Pfadfinder trotz allem (PTA)

Im Mittelpunkt der Pfadi stehen Kinder und Jugendliche. Erwachsene machen bei den Pfadi-Aktivitäten nicht mit.

Es geht um Erfahrungen in der Gemeinschaft und Erlebnisse in der Natur.

Namentlich will die Pfadi die soziale Kompetenz der Kinder und Jugendlichen fördern, besonders Teamfähigkeit, Selbstverantwortung und Führen (“Junge leiten Jüngere”).

Pfadfinder tragen eine Uniform, damit soziale Unterschiede zwischen den Kindern weniger sichtbar sind.

Mit 22’000 Mädchen und 28’000 Jungen ist sie die grösste Jugendorganisation der Schweiz.

Es gibt 23 kantonale Verbände und 700 lokale Gruppen.

Weltweit gehören über 38 Mio. Kinder, Jugendliche und Erwachsene zwei Pfadiweltverbänden an.

Schätzungsweise 300 Mio. Menschen waren in den letzten 100 Jahren Pfadfinder.

Eine Pfadi existiert heute in 216 Ländern und Territorien.

In Westeuropa sinken die Mitgliederzahlen, in Osteuropa, Asien, Afrika und Lateinamerika nimmt die Zahl der Pfadfinder zu.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft