
Die Zukunft des Gletschertourismus ohne das ewige Eis

Der Klimawandel lässt Gletscher schmelzen. Das hat auch Auswirkungen auf den Tourismus zu den Gletschern. Wie kann dieser für die lokalen Gemeinschaften bedeutende Wirtschaftszweig gerettet werden?
Gletscher üben seit Jahrhunderten eine grosse Faszination auf die Menschen aus. Sie sind eine wichtige Touristenattraktion und ziehen jedes Jahr Millionen von Menschen in die europäischen Alpen sowie in andere Regionen der Welt, von Nordamerika bis Neuseeland.
Gletscher sind eine Einkommensquelle für die Menschen vor Ort, wie das Beispiel des Glacier National Parks in MontanaExterner Link (USA) zeigt. Skigebiete, Hotels und Bergführer:innen sind direkt oder indirekt von der Präsenz von Gletschern abhängig.
In der Schweiz trugen die Gletscher zum Entstehen des alpinen Tourismus bei und begünstigten die Entwicklung von Bergbahnen. Auch die 1912 eröffnete Jungfraubahn wurde gebaut, um die Gletscherwelt in den Berner und Walliser Alpen besser zugänglich zu machen.
Die Gletscher schmelzen jedoch aufgrund des Klimawandels immer schneller. Viele könnten in den nächsten Jahrzehnten fast vollständig verschwinden, was Auswirkungen auf den Bergtourismus und die Gletschergebiete haben dürfte. Dies ist einer der Gründe, warum die Vereinten Nationen das Jahr 2025 zum Internationalen Jahr für die Erhaltung der GletscherExterner Link erklärt haben.
Der Rückgang der Gletscher erschwert das Erreichen von Berghütten und hochgelegenen Gipfeln. Das Schmelzen der Gletscher und des Permafrosts destabilisiert den Boden, auf dem Seilbahnen und andere touristische Infrastrukturen ruhen. Aktivitäten wie Bergsteigen und der Besuch von Eishöhlen, wie auf dem Rhonegletscher in den Schweizer Alpen, werden dann nicht mehr möglich sein.
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Die Faszination eines Besuchs von Gletschern oder Überresten von Gletschern wird jedoch nicht völlig verschwinden.
Emmanuel SalimExterner Link, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Lausanne und Autor einer Studie über die Zukunft des Gletschertourismus, sieht drei Möglichkeiten, um dieser besonderen Sparte des Bergtourismus eine Perspektive zu geben: Geotourismus, Dark Tourism und Angebote mit virtueller Realität. Er hat eine Reihe konkreter Begebenheiten in der Schweiz und in Frankreich analysiert.
«Das Schmelzen der Gletscher bedeutet nicht unbedingt das Ende des Gletschertourismus», bilanziert Salim gegenüber Swissinfo.
Der wissenschaftliche Wert von Gletschern
Der Gletschertourismus hat sich lange Zeit auf den ästhetischen Reiz von Gletscherlandschaften konzentriert, sagt Salim. Die Menschen besuchten die Alpen, Island oder Bergnationalparks in den Vereinigten Staaten, um insbesondere die natürliche Schönheit und Erhabenheit der Gletscher zu bewundern.

Gletscher haben aber auch einen wissenschaftlichen und pädagogischen Wert, denn sie spiegeln die Folgen der globalen Erwärmung. In dieser Hinsicht ist der Aletschgletscher in der Schweiz, der grösste Gletscher Kontinentaleuropas, ein interessantes Beispiel.
Das Gebiet rund um den Aletsch im Kanton Wallis ist eine wichtige Destination für den Skisport und andere Winteraktivitäten. Im Sommer nutzen Tausende von Menschen die Bergbahnen, um die Aussichtspunkte zu erreichen, von denen sich die Gletscherwelt beobachten lässt.
Die Gletscherschmelze mindert die ästhetische Schönheit von Gletschern, steigert aber gleichzeitig ihre wissenschaftliche Bedeutung, so Salim: «Der Rückzug des Aletschgletschers macht ihn zu einem idealen Ort, um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Landschaft direkt zu beobachten. Dieses Szenario eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung des so genannten Geotourismus.»
Geotourismus am Aletschgletscher
Geotourismus ist eine Form des Tourismus, die die geologischen und geomorphologischen Besonderheiten eines Ortes unter die Lupe nimmt. Er hilft den Besucher:innen, die Geschichte der Erde und die natürlichen Entwicklungsprozesse zu verstehen.
Beispiele für Geotourismus in der Welt sind Erkundungen des Grand Canyon in den Vereinigten Staaten oder Ausflüge zum Ätna in Italien. In der Schweiz gibt es beispielsweis den Geotourismus im MattertalExterner Link bei Zermatt.
Emmanuel Salim ist überzeugt, dass auch in Gebieten, in denen die Gletscher schmelzen, der Geotourismus helfen wird. Im UNESCO-Welterbe Aletsch bietet der Umweltverband Pro Natura seit Jahren bereits Touren zur Entdeckung der glaziologischen und geologischen BesonderheitenExterner Link und der lokalen Artenvielfalt an. Handy-Apps, Broschüren und Lehrpfade sensibilisieren für die Auswirkungen des Temperaturanstiegs.
«Die Entwicklung des Geotourismus kann eine wirksame Strategie sein, um sich von der Hauptattraktion, dem physischen Gletscher, zu lösen und das touristische Interesse zu sichern, auch wenn das Eis verschwunden ist», sagt Salim.

Dark Tourism am Mer de Glace
Der zweite Ansatz ist die Entwicklung des postglazialen Tourismus. Diese Perspektive, so Salim, könnte auf den Gletscher Mer de Glace angewandt werden, den meistbesuchten Gletscher Frankreichs. Im Jahr 2024 wurden dort rund 450’000 Besucherinnen und Besuchern gezählt. Doch der Rückzug des Gletschers schreitet fort. Ab 2050 könnte der Gletscher vom Aussichtspunkt Montenvers oberhalb des Alpenorts Chamonix nicht mehr zu sehen sein.
UmfragenExterner Link von Salim unter Tourist:innen am Mer de Glace zeigen, dass die Hauptmotivation für einen Besuch dieses Ortes darin besteht, den Gletscher gesehen zu haben, bevor er verschwunden ist. Viele wollen aber auch den Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Gletscherentwicklung besser verstehen.
«Diese Beweggründe werden oft mit dem Konzept des sogenannten Dark Tourism in Verbindung gebracht», erklärt Salim. Bei dieser Form des Tourismus werden Orte besucht, die mit Naturkatastrophen oder tragischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Zu den bekanntesten Zielen gehören das Konzentrationslager Auschwitz in Polen und das Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine.
Im Falle des Mer de Glace und anderer Gletscherstandorte könnte der Übergang von der «letzten Gelegenheit» zum Dark Tourism es den Betreibern ermöglichen, eine neue Art von Erlebnis zu fördern.
Ehemals eisbedeckte Regionen würden zu Orten des Gedenkens an Gletscher werden – wie dies bereits mit dem Okjökull-Gletscher in Island und dem Pizol-Gletscher in der Schweiz geschehen ist. Es geht somit um eine Reflexion über die Folgen der vom Menschen verursachten «Klimakatastrophe».
«Mit dem Übergang zum Dark Tourismus liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf dem Gletscher selbst, sondern auf den Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt», sagt Salim.

Virtuelle Realität auf dem Morteratschgletscher
Hinzu kommt der Einsatz neuer Technologien. Die virtuelle Realität ermöglicht es, verschwindende Gletscher zu rekonstruieren und die zukünftige Entwicklung noch vorhandener Gletscher zu simulieren und zu visualisieren. In diesem Szenario ist die Attraktion nicht mehr der physische Gletscher selbst, sondern eine virtuelle Darstellung desselben.
Ein solches Erlebnis ist bereits für den Morteratschgletscher in der Schweiz möglich. Im Besucherzentrum an der Talstation der Diavolezza-SeilbahnExterner Link (Kanton Graubünden) kann das Publikum mit einer Virtual-Reality-Brille die Geschichte des Gletschers und des gesamten Gebiets seit 1875 verfolgen und Projektionen für das Jahr 2100 betrachten.
Nur wenige Studien haben sich mit dem Einsatz von virtueller Realität im Gletschertourismus befasst. Forschungen zur Erhaltung archäologischer Stätten in der Arktis legen jedoch nahe, dass sie ein wirksames Instrument sein könnte, um eine starke Botschaft zu vermitteln, sagt Salim: «Es ist definitiv ein innovativer Ansatz.»
Erleben Sie den Morteratschgletscher mit virtueller Realität:
Dem Verschwinden der Gletscher zuvorkommen
Die drei von Salim aufgezeigten Strategien schliessen sich gegenseitig nicht aus. Die Reiseveranstalter:innen können diese je nach Kontext und gewünschtem Angebot kombinieren. Salim ist aber überzeugt, dass ein ganzheitlicher Ansatz entscheidend ist, um dieser Branche eine Nachhaltigkeit zu garantieren.
«Dies ist die einzige Möglichkeit, Aktivitäten rund um die Idee der Gletscher aufrechtzuerhalten, auch wenn die Gletscher nicht mehr die Hauptattraktion sind oder verschwunden sein werden», sagt er.
Editiert von Gabe Bullard/vm, Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Gerhard Lob/jg

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