
Schweizer Bericht: Kommt Social Scoring in «westliche Gemeinschaften»?

In seinem aktuellen Tätigkeitsbericht kritisiert der Schweizer Datenschutzbeauftragte die Polarisierung in anderen westlichen Staaten und fürchtet, dass sie zu Social Scoring-Systemen führen. Die Verantwortlichen eines aktuellen Forschungsprojekts zu Social Scoring vermitteln eine andere Perspektive.

Nach China auch bald im Westen? Der Schweizer Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger sieht das Risiko von Social Scoring als aktuelle Herausforderung.
In seinem heute erschienen Tätigkeitsbericht schreibt er, dass die «demokratischen Gesellschaften des Westens» zumindest die Mittel hätten, «das von den liberalen Verfassungen garantierte private und selbstbestimmte Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger in sein Gegenteil» zu verkehren.
Überraschend klar interpretiert der Datenschutzbeauftragte die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz. Das technologieneutrale Schweizer Datenschutzgesetz verbiete «flächendeckende Gesichtserkennung und ‹Social Scoring›», obwohl eine explizite gesetzliche Verankerung fehlt.
Er habe sich bereits im Mai 2025 in einer MitteilungExterner Link so positioniert, heisst es auf Nachfrage von Swissinfo.
Risiko durch Polarisierung oder «Pilotprojekt-Logik»?
Gegenwärtig beschäftigt sich ein Schweizer Forschungsprojekt im Auftrag der Stiftung TA-Swiss mit dem Risiko von Social Scoring in Demokratien. Der Jurist und Philosoph Johan Rochel aus dem Forschungsteam sagte gegenüber Swissinfo, dass er das Risiko von Social Scoring vor allem sehe, wenn eine gesellschaftliche Debatte aus bleibt. Er fürchtet Unwissen und mangelndes Bewusstsein bei staatlichen Stellen oder Privatunternehmen und eine «Einführung über eine Pilotprojekt-Logik».
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Aus dem Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten dringt eine gegensätzliche Perspektive: Das Risiko liege in einer Polarisierung, in der sich eine Seite vom Rechtsstaat abwende. Besorgt ist der Beauftragte über eine Entwicklung in «nicht wenigen westlichen Partnerstaaten der Schweiz», wo er einen «Meinungsgraben» erkennt zwischen den «Anhängern des Rechtsstaats und Kreisen, die angeblich nichts zu verbergen haben». In diesen Kreisen werde Grundrechts- und Datenschutz zunehmend als «Bevormundung» oder «als Zwängerei einer abgehobenen Bürokratie» gesehen.
«Es gibt Graubereiche in der Gesellschaft»
Der Datenschutzbeauftragte erwähnt, dass die KI-Gesetzgebung in der Europäischen Union Social Scoring-Algorithmen zu den verbotenen Technologien zählt.
Gleichzeitig sieht er in – nicht näher benannten – «westlichen Gemeinschaften», allem Anschein nach nicht in der Schweiz, ein Denken, das «von einem unstillbaren Durst nach Sicherheit» bestimmt sei. In diesem Denkmuster freue man sich über die «beengenden Folgen der digitalen Sozialkontrolle für ‘Kriminelle’, ‘Fremde’ und Andersdenkende». Dabei blende man die Folgen für sich selbst und die eigene Gruppe aus.
Durch diese Polarisierung sieht er die Freiheit des Individuums bedroht. Wenn solche Denkmuster zur «Leitkultur» werden, müsse das «Individuum» mit «eine[r] Existenz als bis in die Intimsphäre fremdbestimmtes Objekt informationeller Übermacht» rechnen «und zwar eher über kurz als lang».
Martina von Arx ist Projektleiterin der laufenden TA-Swiss-Studie zu Social Scoring-Systemen. Sie sagt: «Grundsätzlich finde ich es gut, dass sich der Datenschutzbeauftragte der Thematik annimmt. Es gibt Graubereiche in der Gesellschaft, wo wir bereits nah an einem Social Scoring-System sind.» Im Hinblick auf die Polarisierung nimmt von Arx eine nuanciert andere Perspektive ein: Eher als über eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, wo sich eine Mehrheit für die Einführung finden könne, werde Social Scoring «auf freiwilliger oder scheinbar freiwilliger Basis» eingeführt.
Ein Mangel an Transparenz und Definitionsschärfe, was Social Scoring umfasst, könne das ermöglichen.
Editiert von Giannis Mavris

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