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50 Jahre Schlussakte von Helsinki: «Für uns war das aufregendes Neuland»

Der US-Präsident Gerald Ford und der sowjetische Anführer Leonid Breschnew.
Der US-Präsident Gerald Ford (l.) und der sowjetische Anführer Leonid Breschnew (M.) in Helsinki während der Konferenz. Lehtikuva

Bei der Verabschiedung des gesamteuropäischen Regelwerks nahm die Schweiz in den 1970ern eine wichtige Rolle ein. Wie kam es zu den «Prinzipien von Helsinki» und wie entwickelte sich daraus die OSZE? Auf Spurensuche mit einem Historiker und damals beteiligten Diplomat:innen aus Polen und der Schweiz.

Mitten im Kalten Krieg einigten sich die Länder auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auf gemeinsame Grundwerte. Zwischen den Blöcken nahm die Schweiz bei der Vermittlung in Menschenrechtsfragen eine «führende Rolle» ein, wie es heute ein Mitglied der damaligen polnischen Delegation ausdrückt.

33 europäische Staaten, die USA und Kanada einigten sich auf staatliche Souveränität, Unverletzlichkeit der Grenzen und Menschenrechte, als sie am 1. August 1975 in der finnischen Hauptstadt die «Prinzipien von Helsinki» unterschrieben. Darin verpflichteten sie sich, die Grenzen anderer Staaten zu wahren und sich nicht in innere Angelegenheiten einzumischen, Streitfälle friedlich zu lösen, wirtschaftlich zusammenzuarbeiten sowie die Menschenrechte zu wahren.

Dies war das Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). In diesem multilateralen politischen Forum traten zum ersten Mal seit Beginn des Kalten Krieges Ost und West wieder in Dialog miteinander.

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Wie ist es zu den «Prinzipien von Helsinki» gekommen und welche Rolle spielte die Schweiz dabei?

Ganz Europa an einem Tisch

Es war Ende der 1960er-Jahre die Sowjetunion, die – zusammen mit den restlichen Staaten des Warschauer Pakts – vorschlug, eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einzuberufen. 1973 fand die erste Konferenz in Helsinki statt. Die Verhandlungen für eine Schlussakte fanden von 1973 bis 1975 in Genf statt.

Die Unterzeichnung der «Prinzipien von Helsinki» ging als Höhepunkt der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre in die Geschichte ein. Die Stimmung war optimistisch.

Hans-Jörg Renk, der damals als junger Diplomat für die Schweiz an den Verhandlungen teilnahm, erinnert sich: «Für uns war das aufregendes Neuland. Dass ganz Europa, Ost und West, an einem Tisch sass, war bemerkenswert.»

Die Staaten verfolgten jedoch unterschiedliche Ziele mit der KSZE. «Die Sowjetunion wollte in erster Linie den Status Quo legitimieren», erklärt Adam Rotfeld. Der Diplomat war als Mitglied der polnischen Delegation 1975 in Helsinki dabei und amtierte 2005 kurzzeitig als Aussenminister Polens. «Sie verstand die Schlussakte als eine Art Friedensvertrag – 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.»

Der Westen wiederum liess sich darauf ein, unter der Voraussetzung, dass neben Wirtschaft und Sicherheitspolitik auch Menschenrechte ein Diskussionsthema der KSZE sein sollte.

«Für die Sowjets erwies sich das als trojanisches Pferd», erklärt Thomas Bürgisser, Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), «die Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts, aber auch Dissidenten konnten sich von nun an auf die Prinzipien von Helsinki berufen.» So verwiesen etwa die Menschenrechtsorganisation «Moskauer Helsinki Gruppe», die von 1976 bis 1982 in der Sowjetunion aktiv war, und die tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung «Charta77», die wesentlich zum Gelingen der Samtenen Revolution 1989 beitrug, auf die Schlussakte.

OSZE-Mitarbeitende sammeln Beweisstücke in einem Wald
Inspektion am 25. April 2017 jener Stelle ausserhalb von Lugansk, an der ein OSZE-Patrouillenfahrzeug durch eine Explosion zerstört wurde. Die Ukraine leitete am eine Terroruntersuchung zu einer Minenexplosion ein, bei der ein amerikanischer Sanitäter des OSZE-Beobachterteams getötet wurde. Afp Or Licensors

In der Rolle der Vermittlerin

Für die Schweiz war die Teilnahme an der KSZEExterner Link, der sie anfänglich skeptisch gegenüberstand, ein wichtiger Schritt der aussenpolitischen Öffnung. Vor dem UNO-Beitritt 2002 war dies das einzige genuin politische, multilaterale Forum, an dem sie sich beteiligte.

Zusammen mit Österreich, Finnland und Schweden sowie Jugoslawien, Zypern und Malta gehörte die Schweiz zur Gruppe der neutralen und blockfreien Staaten (kurz: N+N). «Innerhalb dieser nahm sie eine führende Rolle in der Vermittlung ein, insbesondere was das umstrittene Thema der Menschenrechte anbelangte», erinnert sich der polnische Delegierte Rotfeld.

Nicht nur fanden die Verhandlungen teilweise in Genf statt, die Schweizer Diplomaten konnten als neutrale Akteure auch zwischen den USA und der Sowjetunion vermitteln, wenn der Stillstand der Verhandlungen drohte. «Schliesslich war aber auch hier der Erfolg dieser Verhandlungen vor allem abhängig von der Kompromissbereitschaft der beiden Blöcke», betont Bürgisser.

Nach der Unterzeichnung der Schlussakte betonte das Schweizer AussenministeriumExterner Link, dass damit die Arbeit erst richtig anfange. Die Verhandlungen wurden an den Folgekonferenzen fortgeführt – wobei der Ost-West-Dialog auch immer wieder stockte. «Bereits bei der zweiten Konferenz in Belgrad 1977/78 reisten die Diplomaten wieder ab, ohne irgendwelche substanziellen Beschlüsse gefasst zu haben», so Bürgisser.

In den 1980er-Jahren entwickelte die Schweiz unter Bundesrat Pierre Aubert erstmals eine eigenständige Haltung zur Menschenrechtspolitik und setzte sich verstärkt und immer selbstbewusster für diese Themen ein. Als in Polen 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde, sprach Aubert in einer beispiellos scharfen Rede von einer «Tragödie für die Polen», kritisierte das sozialistische RegimeExterner Link und setzte sich dafür ein, die KSZE-Konferenz zu unterbrechen.

Ein Zeitalter des Friedens?

Mit dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs begann ein neues Zeitalter. Die blockfreie Ordnung wurde am Pariser SondergipfelExterner Link 1990 mit der «Charta von Paris für ein Neues Europa» besiegelt. Die Staaten bekannten sich darin zu Demokratie, Marktwirtschaft und Zusammenarbeit.

«Paris war das letzte Gipfeltreffen, an dem der optimistische Geist der Anfangsjahre wieder auflebte», erinnert sich der ehemalige KSZE-Diplomat Jerzy Nowak, der als Mitglied der polnischen Delegation ebenfalls an den Verhandlungen in Genf 1973 bis 1975 teilgenommen hatte. «Bereits 1994 an der Folgekonferenz in Budapest herrschte das Gefühl vor, dass die europäische Zusammenarbeit nicht einfach werden würde, insbesondere was Russland betraf.» In den folgenden Jahren wurde klar, dass Russland an seiner regionalen Vormachtstellung festhalten würde. Auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien zeigten, dass der Traum eines «Zeitalters der Demokratie, des Friedens und der Einheit», wie in Paris beschworen, eine Illusion war.

«Die KSZE wäre eigentlich dazu prädestiniert gewesen, nach dem Ende der Blöcke als grosse gesamteuropäische Organisation eine zentrale Funktion einzunehmen – aber sie hinkte den Entwicklungen immer hinterher», sagt Bürgisser. Erst im Lauf der 1990er-Jahre wurde die Konferenz institutionalisiert und ein jährlich wechselnder Vorsitz eingerichtet. Seither befinden sich das Generalsekretariat und der ständige Rat in Wien. 1995 folgte die Umbenennung in Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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Die Grenzen der Diplomatie 

Auch die Rolle der Schweiz veränderte sich in den 1990er-Jahren. «Am Gipfeltreffen von Paris nahm die Gruppe der neutralen und blockfreien Staaten zum letzten Mal eine wichtige Rolle ein», erzählt Marianne von Grünigen, die damals als Leiterin der Schweizer Delegation zusammen mit Finnland und Schweden die Verhandlungen in Wien leitete. «Mit dem Ende der Blöcke löste sich auch die Gruppe der N+N auf und die Neutralität verlor an Bedeutung.»

Trotzdem bemühte sich die Schweiz weiterhin an der multilateralen DiplomatieExterner Link mitzuwirken, beteiligte sich an Aufklärungsmissionen im auseinanderbrechenden JugoslawienExterner Link und der Peace-Keeping-Mission in Berg-Karabach. 1996 übernahm die Schweiz sogar den Vorsitz der OSZE.

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2014 übernahm die Schweiz erneut den Vorsitz der OSZE – just in dem Jahr, als mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine die Prinzipien von Helsinki bröckelten. Unter der Schirmherrschaft der OSZE und der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini wurden die brüchigen Waffenstillstände Minsk I und II ausgehandelt. Auch hier zeigte sich, was bereits in den Jugoslawienkriegen deutlich wurde: «Letztlich sind die Beschlüsse der OSZE zahnlos», so Bürgisser, «denn sie verfügt weder über eine eigene Armee noch kann sie Sanktionen verhängen.»

Alle Beschlüsse unterliegen dem Konsens, weshalb Russland seit Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 vieles ausbremsen kann. So operiert die OSZE seit drei Jahren ohne reguläres Budget. «Die OSZE war in ihrer ganzen 50-jährigen Geschichte noch nie so blockiert wie heute», so Bürgisser.

Die OSZE mit ihren 57 Mitgliedsstaaten ist momentan die einzige europäische Vereinigung, an der Russland noch beteiligt ist. 2026 übernimmt die Schweiz zum dritten Mal den Vorsitz.

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 Editiert von Benjamin von Wyl

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