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“Trotz vieler Probleme glaube ich an Vietnam”

Drei Jahrzehnte nach Kriegsende wird Vietnam zu einer neuen Wirtschaftsmacht. Keystone

Bis Ende Jahr könnte der Beitritt Vietnams zur Welthandels-Organisation erfolgen. Das asiatische Boom-Land weckt auch in der Schweiz den Investitions-Appetit von Unternehmen.

Die Schweizer Expertin Barbara Möckli-Schneider erklärt im Interview mit swissinfo, warum ihrer Meinung nach Schwellenländer wie Vietnam trotz einiger Risiken über ein enormes Potential verfügen.

Nach jahrelangen bilateralen und multilateralen Verhandlungen (mit der Schweiz gab es im August 2005 ein Abkommen), will Vietnam das 150. Mitglied der Welthandels-Organisation (WTO) werden. Dieser Schritt soll Ende dieses Jahres erfolgen.

Die Schweizer Wirtschaft will diese Entwicklung nutzen. Entsprechend wird der “vietnamesische Drachen” umworben.

Die Sekretärin der Wirtschaftskammer Schweiz-Asien, Barbara Möckli-Schneider, weist auf die widersprüchliche Situation eines Landes hin, das viele Investoren fasziniert und interessiert.

swissinfo: Sie sind in den letzten 10 Jahren häufig nach Vietnam gereist. Welche Eindrücke sind Ihnen vor allem geblieben?

Barbara Möckli-Schneider: Ich erinnere mich insbesondere an den starken Kontrast zwischen Stadt und Land. Während die Einwohner von Städten wie Ho Chi Minh City praktisch unseren Lebensstandard haben, sind die Lebensbedingungen auf dem Land extrem einfach. Viele Menschen leben in Hütten ohne Wasser und Strom.

Mich beeindruckten auch die Reisbauern immer wieder. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend stehen sie in den Feldern, meist umgeben von Wasserbüffeln. Die Vietnamesen sind sehr fleissig. Das erklärt zum Teil auch den aktuellen wirtschaftlichen Boom.

swissinfo: Vietnam weist in der Tat ein unglaubliches Wirtschaftswachstum auf – rund sieben Prozent pro Jahr seit 2000. Wie hat sich das Land in dieser Zeit geändert?

B.M.-S.: Seit einigen Jahren sieht man in den Städten, vor allem in Ho Chi Minh City, riesige Baustellen. Hotels und Wolkenkratzer wachsen wie Pilze aus dem Boden. Man kann diese Metropole schon fast mit New York vergleichen.

Es ist die “Stadt der Städte”, die aus dem Nichts entstand: Denn während des Krieges war Saigon – so der frühere Name – praktisch vollkommen zerstört. Jetzt wächst es ständig und wird zum pulsierenden Zentrum einer ganzen Region.

In jüngster Zeit kann man auch beobachten, dass moderne Boutiquen mit Markenartikeln ihre Tore öffnen. Es gibt eine wachsende Mittelschicht, die sich Gucci, Armani & Co. leisten kann.

swissinfo: Aber dies ist nur eine Seite der Medaille. Es gibt nach wie vor viel Armut, die Unterschiede im Lebensstandard sind enorm.

B.M.-S.: Natürlich, man darf nicht vergessen, dass Vietnam immer noch ein Entwicklungsland ist. Viele Leute haben zwei oder drei Jobs, um ihre Familien zu ernähren: Ein paar Stunden in einer Bar, dann in einem Textilunternehmen und vielleicht noch in einer Fabrik.

Die Löhne liegen sehr tief. Im Gastgewerbe verdient man vielleicht 50 Dollar im Monat. Das ist selbst im Vergleich zu China wenig. Aber Vietnam hofft auf Grund seines tiefen Lohnniveaus, ausländische Investoren anzuziehen.

Es ist wichtig, dass diese Politik funktioniert. Denn die Leute brauchen eine Beschäftigung, und die Regierung weiss, dass sie ihr Ziel nur mit der Hilfe ausländischer Firmen und Investoren erreichen kann.

Anders gesagt: Das Land hat keine Alternative zur Öffnung. Der Beitritt zur WTO ist nur ein weiterer Schritt in diese Richtung.

swissinfo: Zur Zeit sind in Vietnam zirka 90 Schweizer Firmen tätig. Im Unterschied zu China, wo die Unternehmen auf grosse Probleme stossen, scheint es in Vietnam leichter. Wie erklärt sich das?

B.M.-S.: Tatsächlich machen viele Unternehmen, die ich kenne – Nestlé, Holcim oder ABB sowie kleine und mittlere Unternehmungen aus der Textil- und Elektronikbranche – hervorragende Geschäfte in Vietnam. Alle können Gewinne verzeichnen.

Ich glaube, dass in China der Schutz der Urheberrechte viel ausgeprägter ist als in Vietnam. Und in Vietnam sind die Rahmenbedingungen generell besser: Die englische Sprache ist verbreiteter, das Investitionsklima günstiger und die Bevölkerung sehr willig zu lernen. Mehr als 40 Prozent der jungen Vietnamesen besuchen die Universität.

swissinfo: Gleichwohl birgt auch Vietnam Risiken und Gefahren. Worauf machen Sie ein Schweizer Unternehmen in einer Beratung aufmerksam?

B.M.-S.: Grosse Sorgen macht uns vor allem die Korruption. Wir haben diverse Berichte von Unternehmern, die Schmiergelder zahlen mussten, “um Erfolg zu haben”. Dies ist fast schon die Regel.

Ein weiteres Problem ist die Bürokratie. In Vietnam ist es sehr schwierig, alle nötigen Bewilligungen zu erhalten. Die Prozeduren sind nicht immer klar. Da kann es schon mal Jahre gehen, bis ein Dossier abgeschlossen ist.

swissinfo: Wieso glauben Sie angesichts dieser Schwierigkeiten trotzdem an das wirtschaftliche Potential Vietnams?

B.M.-S.: Weil ich die unglaubliche Entwicklung miterlebt habe, die dieses Land seit 1997 durchläuft. Man spürt eine grosse Aufbruchsstimmung. Die Leute sind auf der Suche nach neuen Geschäftsmöglichkeiten. Und die Regierung tut, was sie kann, um diesen Trend zu unterstützen.

Ein Beispiel: Im Mai haben wir in Zürich ein Seminar organisiert. Gleich drei vietnamesische Minister wollten daran teilnehmen. Sie sind sehr offen und suchen den direkten Kontakt zu den ausländischen Investoren. Das schafft Vertrauen. Sie verfolgen klare Ziele und machen alles, um diese zu erreichen.

swissinfo-Interview: Marzio Pescia
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Vietnam sind sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft sehr intensiv.

Die beiden Länder führen beispielsweise Gespräche über Menschenrechtsfragen. Vietnam ist zudem eines der Schwerpunktländer in der Entwicklungspolitik der Eidgenossenschaft.

Im letzten Jahrzehnt hat sich das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern verfünffacht. Im Jahr 2005 wurden von der Schweiz Waren im Wert von 116 Mio. Franken nach Vietnam exportiert (vor allem Industriemaschinen, chemische Produkte und Medikamente).

Der Warenwert der Importe belief sich auf 195 Mio. Franken (vor allem Schuhe und Landwirtschaftsprodukte).

Die Wirtschaftskammer Schweiz-Asien zählt rund 200 Mitglieder. Sie stammen vor allem aus der Maschinen- und der chemischen Industrie.

Vietnam ist 331’000 Quadratkilometer gross und hat 85 Mio. Einwohner, Durchschnittsalter: 27 Jahre.
In den letzten 5 Jahren stieg das Bruttoinlandprodukt (BIP) durchschnittlich um mindestens 7% jährlich an.
Damit liegt Vietnam in Bezug auf die Wirtschafts-Dynamik gleich hinter China.
Die Verhandlungen für einen Beitritt zur Welthandels-Organisation (WTO) werden seit 1995 geführt.

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