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Das neue Leben des Hussam A.

Der Gaza-kriegsversehrte Palästinenser Hussam Alkhouli mit seiner Schweizer Beinprothese. swissinfo.ch

Der palästinensische Feuerwehrmann Hussam verlor bei einem Angriff der Israelis auf Gaza ein Bein. Dank einer humanitären Aktion hat er in der Schweiz – als erstes Kriegsopfer aus dem Gazastreifen- eine Prothese erhalten und neue Hoffnung gefasst.

Hussam Alkhouli läuft an Krücken, aber er läuft. Und das ist im Moment das Wichtigste. Dank einer Prothese, die er vor kurzem in Lugano erhalten hat. Unsichtbar ist das orthopädische Instrument unter der schwarzen Jeans versteckt.

Der junge Mann lacht und fuchtelt mit seinen Krücken in der Luft, als wir ihn in Ascona auf dem Monte Verità treffen. Als der 28-jährige Palästinenser am 19. August in Lugano-Agno landete, musste er den Flughafen noch im Rollstuhl verlassen.

Das rechte Bein des Feuerwehrmanns war im Januar amputiert worden, nachdem er während eines Einsatzes in einem brennenden Haus von Gaza Stadt schwer verletzt worden war. Er befand sich im elften Stock, als das Unglück geschah. Auch das linke Bein wurde zersplittert, musste aber nicht amputiert werden.

Schicksalhafter Januar-Tag

“Trotz einer vereinbarten, uns vom Roten Kreuz mitgeteilten zweistündigen Feuerpause bombardierten israelische Flieger das Gebäude”, erinnert er sich. Das war am 15. Januar, nur zwei Tage, bevor die Israelis ihre umstrittene und weltweit kritisierte Militäraktion “Gegossenes Blei” im Gazastreifen beendeten.

Kaum zu glauben: Es war der gleiche Tag, an dem Hussams erstes Kind, die Tochter Sundos, zur Welt kam. In einem Dokumentarfilm über die Situation im Gazastreifen nach dieser Militäraktion sprach der TV-Journalist und Nahostkorrespondent Gianluca Grossi mit Hussam über sein Schicksal.

Dabei beklagte er sich, dass sich niemand um die Kriegsversehrten kümmere – auch die eigene Hamas-Regierung nicht. Genau diese Episode wühlte das Publikum im April dieses Jahres auf, als Grossis Dok-Film “Gaza: Frei zu sterben” auf dem Monte Verità von Ascona seine Premiere erlebte.

Unterstützung vom EDA

Und der Grundsatzentscheid war schnell gefasst, Hussam zu helfen. Wesentlich länger dauerte es, die Aktion wirklich durchzuführen, eine Arbeitsgruppe zu bilden und das Fundraising aufzugleisen.

Inzwischen sind zwei Drittel der notwendigen 37’000 Franken gesammelt. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) nahm erfolgreich mit Kairo Kontakt auf, um die Ausreise via Ägypten zu ermöglichen.

“Denn normalerweise kommt niemand aus dem Gaza-Streifen heraus”, sagt Claudio Rossetti, Direktor der Stiftung Monte Verità, die im Rahmen ihres Einsatzes für Menschenrechte die humanitäre Hilfsaktion für Hussam unterstützt. Swiss übernahm den Flug, die Swisscom stellte gratis ein Mobiltelefon zur Verfügung.

Natur als Heilung

So gelang es, erstmals einen Verletzten aus dem jüngsten Krieg im Gazastreifen in die Schweiz zur Behandlung zu bringen. Hussam kam in Begleitung seines Bruders Nobil (38). “Allein die schöne Natur hier war für mich schon wie eine Medizin”, schwärmt Hussam.

Als er die Prothese bekam, musste er weinen, vor Glück, aber auch im Gedenken an all seine verletzten Landsleute, denen das Privileg einer solchen humanitären Aktion nicht vergönnt ist.

Die Schweiz ist eine neue und ungewohnte Erfahrung für die beiden Palästinenser. Keine Kontrollen, dank Schengen-Visum ein einfacher Übergang nach Italien. In Realp trafen sich die Beiden mit einer Sportlerin, die mit einer Prothese lebt.

Verwelkte Blätter blühen

“Sie erleben dies alles als grosse Freiheit”, sagt Gianluca Grossi, der Hussam für einen neuen Dokumentarfilm häufig begleitet. Doch es gibt auch eine Kehrseite. “Für Nobil ist es schwierig zu akzeptieren, dass er wieder zurück muss, dass er nur vorübergehend bleiben kann”, weiss Grassi.

Hussam hingegen sieht der Rückkehr zuversichtlicher entgegen. In Kürze schon tritt er die Heimkehr an. Er will wieder bei der Feuerwehr arbeiten, in der Einsatzzentrale. In der Reha-Klinik von Novaggio TI absolviert er zur Zeit eine Rehabilitation.

“Ich fühle mich wie ein Baum, der zu neuem Leben erwacht ist; zuvor waren meine Blätter verwelkt und abgestorben”, erzählt er. Seinen Aufenthalt in der Schweiz will er auch nutzen, um seine Sicht der Dinge im palästinensisch-israelischen Konflikt vorzutragen. “Als Feuerwehrmann sehe ich viele Dinge, die vor keine Fernsehkamera kommen”, sagt er.

Gerhard Lob, Ascona, swissnfo.ch

Der Gazastreifen ist ein Küstengebiet am östlichen Mittelmeer zwischen Israel und Ägypten mit Gaza-Stadt als Zentrum. Es gehört zu den Palästinensischen Autonomiegebieten. Auf engstem Raum (360 Quadratkilometer) leben 1,5 Millionen Personen.

Am 27. Dezember 2008 begann die israelische Armee als Reaktion auf den wiederholten Raketenbeschuss Israels durch die Hamas die Operation “Gegossenes Blei.” Begleitet wurde diese militärische Aktion von Bombenangriffen auf Gebäude, in denen Hamas-Leute vermutet wurden. Die militärische Aktion dauerte bis Mitte Januar.

Der 22 Tage dauernde Konflikt forderte laut Angaben der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) auf palästinensischer Seite über 1400 Tote und 5000 Verletzte, mehrheitlich Zivilpersonen.

Auf israelischer Seite waren es 13 Tote und 182 Verletzte. Über 20’000 Wohnungen wurden zerstört oder beschädigt, die öffentliche Infrastruktur schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Der Gewaltausbruch zum Jahreswechsel 2008/09 zwischen Israel und der Hamas hat die bereits katastrophale Lage für die Bevölkerung verschärft: Die Nahrungsmittelsicherheit ist nicht gewährleistet, die medizinische Versorgung prekär, die Armut wächst.

Obwohl über 80% der Menschen internationale Hilfe benötigen, ist der Zugang zum Gazastreifen selbst für humanitäre Organisationen limitiert. Israel kontrolliert scharf, Hilfsmaterial kommt nur tropfenweise in den Gazastreifen

“Wir verfolgen die Politik, dass der Gazastreifen für humanitäre Hilfe geöffnet werden muss”, sagt Kim Sitzler vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern.

Die Hilfsaktion “Hussam” verfolgt als langfristiges Ziel, im Gazastreifen ein Zentrum für die Behandlung mit Prothesen zu verwirklichen. Wegen der erwähnten Einfuhrbeschränkungen ist dies momentan nicht möglich.

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