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Was es bedeutet, dass Taiwan über das Wiedereinschalten eines Atomkraftwerks abstimmt

Männer in Schutzanzügen
Angestellte eines Atomkraftwerks in Taiwan bei einer Notfallübung im Mai 2011, kurz nach der Katastrophe im japanischen Fukushima. AP Photo/Wally Santana

Ende August stimmen die Taiwaner:innen über den Weiterbetrieb eines kürzlich abgeschalteten Kernkraftwerks ab. Bei Abstimmungen zu Nuklearenergie geht es immer um einen langfristigen Entscheid – und eine langfristige Risikoeinschätzung. In Taiwan geht es auch um das Risiko durch China.

Taiwan hat den Ausstieg aus der Atomenergie vollzogen. Erst vor ein paar Wochen hat die Insel ihr letztes Atomkraftwerk (AKW) abgeschaltet. Damit hat die Mitte-Links-Regierung der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) ihr 2016 verkündetes Ziel einer «nuklearfreien Heimat» bis 2025 erreicht.

In ein paar Wochen sind die Taiwaner:innen nun dazu aufgerufen, in einem Referendum über die Wiederaufschaltung von Maanshan-2 abzustimmen. Wie kommt es dazu?

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Simona Grano ist Leiterin des Forschungsbereichs China-Taiwan-Beziehungen an der Universität Zürich und sagt: «Nuklearenergie war in Taiwans Geschichte immer ein wichtiges Thema – und auch Fokus der Referenden.» Die Frage der Kernenergie hat in Taiwan eine lange Geschichte entlang der politischen Lager.

Das Referendum als direktdemokratisches Konter

Die jetzige Abstimmung war auch ein Versuch der Oppositionspartei Kuomintang (KMT) eines direktdemokratischen Konters. Denn parallel zur AKW-Abstimmung wurden auch massenweise sogenannte «Recall»-Abstimmungen aufgegleist. Ein Instrument, mit dem Gewählte abgewählt werden können.

Im Parlament hat die KMT zusammen mit einer anderen Oppositionspartei die Mehrheit. Diese Mehrheit war in Gefahr, weil vielen Oppositionellen eine Recall-Abstimmung bevorstand. Als Hauptargumente für eine Abwahl wurde eine angeblich zu grosse Nähe zu China bei diesen Parlamentarier:innen vorgebracht.

Die KMT wollte im Frühling also aus der Defensive kommen – und hat vier Referendumsthemen eingebracht, unter anderem auch eines für die Todesstrafe. Doch die Wahlkommission hat nur jenes Referendum über die Wiedereinschaltung des AKWs zugelassen.

Die Küstenansicht eines Kernkraftwerks mit zwei Reaktoren
Wird der Reaktor 2 des AKWs von Maanshan wieder eingeschaltet? Reaktor 1 wurde 2024, Reaktor 2 vor wenigen Monaten ausser Betrieb genommen. I-Hwa Cheng / Keystone

Die KMT hat die Recall-Abstimmungen Ende Juli für sich entschieden. Die AKW-Abstimmung steht noch bevor. Und nun ist die Regierung in der DefensiveExterner Link.

Kernenergie als Fortschrittsversprechen – und als Symbol der KMT-Diktatur

Die Nuklearfrage ist verflechtet mit Taiwans Geschichte der Demokratisierung. Die nationalchinesische Kuomintang (KMT), die in Taiwan herrschte, bevor es eine Demokratie wurde, präsentierte die Kernenergie als Fortschrittslösung, um Taiwan zu einer starken Wirtschaftsnation zu machen.

Als Taiwan unter der KMT noch eine Diktatur war, boten Umwelt- und Atomenergiethemen der Opposition Möglichkeiten «nicht direkt die KMT anzugreifen, aber immerhin ihre politischen Projekte», sagt Grano.

Dies setzte sich im Zuge der Demokratisierung in den 1990er-Jahren fort. Entsprechend, so kann man es in Environmental Governance in TaiwanExterner Link von Simona Grano nachlesen, wählten «davor unterdrückte soziale Bewegungen und politische Opponenten (…) das Anti-Nuklear-Thema», um den Staat zu kritisieren.

Nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 waren die Taiwaner:innen Atomenergie gegenüber sehr kritisch eingestellt.

Wasserattacke im Parlament
Eine Parlamentsdebatte darüber, ob es ein Referendum über den Weiterbau eines Atomkraftwerks geben soll, ist im August 2013 eskaliert. AP Photo/Wally Santana

Zudem wurde der Bau eines vierten Atomkraftwerks von Korruptionsskandalen begleitet – so dass im März 2013 200’000 Menschen für einen Baustopp auf die Strasse gegangen sind.

Was würde Taiwan bei einer chinesischen Blockade tun?

Damals war die DPP die grösste Oppositionspartei. Seit 2016 ist sie an der Regierung und verfolgte den Atomausstieg bis 2025. Dass eine Mehrheit der Taiwaner:innen 2018 in einer Volksabstimmung entschied, den Ausstiegspassus wieder aus dem GesetzExterner Link zu streichen, änderte an diesem Fahrplan nichts.

In der Wahrnehmung von Grano äussert sich aber auch die DDP heute weniger strikt antinuklear. Sie sagt: «Die geopolitischen Verschiebungen in der Welt sorgen dafür, dass die taiwanesische Regierung pragmatischer wird und weniger ideologisch.»

In Taiwans Strommix dominieren fossile Energieträger. 80% der ElektrizitätExterner Link entfielen 2022 auf Kohle- und Gasenergie. Diese Rohstoffe werden importiert. Grano weist daraufhin, wie heikel es für Taiwan ist, von Importen abhängig zu sein. «Erdgas wird importiert, alles wird importiert. Wenn China eine Blockade startet, hat Taiwan ein grosses Problem mit der Selbstversorgung.”

Die Kohle in Taiwan kommt vor allem aus Australien und Indonesien, aber auch aus RusslandExterner Link. In den letzten Jahren haben sich die Spannungen mit China, das Taiwans de facto Unabhängigkeit nicht anerkennt (und mit seiner 1-China-Politik verhindert, dass andere Länder Taiwan anerkennen), verschärft. Ein Meinungsartikel bei The DiplomatExterner Link geht sogar so weit, dass er beim Atomausstieg von einer «selbstgeschaffenen Achillesferse» spricht, weil die Atomkraftwerke die einzige Energiequelle seien, die China sich im Falle einer Invasion nicht anzugreifen traue.

Zudem gibt es auch die wirtschaftliche Dimension: Taiwan ist einer der wichtigsten Halbleiterproduzenten der Welt; deren Produktion ist energieintensiv. Es kam in letzter Zeit häufiger zu Stromausfällen.

Entsprechend kann sich Grano vorstellen, dass eine Mehrheit der Taiwaner:innen für den Weiterbetrieb des Maanshan-2-Kraftwerks stimmen könnte, das seit 1985 in Betrieb ist.

Referenden in Taiwan laut Ex-Botschafter mehr Agenda Setting als Sachpolitik

David Huang ist Politikwissenschaftler und war bis Ende Juli 2025 diplomatischer Repräsentant von Taiwan in der Schweiz. Darauf angesprochen, dass in der Schweiz ein Atomkraftwerk – Beznau – seit 1969 in Betrieb ist, betont Huang, dass die Gefahr von Stürmen und Erdbeben in Taiwan viel höher ist als in der Schweiz. (Unumstritten ist die Sicherheit im Atomkraftwerk, das im Jahr der ersten Mondlandung ans Netz ging, auch in Mitteleuropa nicht. Da es nah an der Grenze steht, gibt es gar in Deutschland ProtesteExterner Link gegen Beznau.)

Viele Menschen in Taipei
Im April 2014 protestierten viele Menschen gegen Atomenergie in Taipei. Doch seither hat sich die Diskussion verschoben. EPA/DAVID CHANG

Huang sagt aber auch, dass Referenden in Taiwan wenig sachpolitisch orientiert sind. «Das Agenda Setting mittels eines Referendums ist viel wichtiger als die politische Vorlage an sich.» Huang verweist darauf, dass in der Vergangenheit Referenden immer gleichzeitig mit Wahlen angesetzt worden sind. So konnten sie Politiker:innen als Mobilisierungsinstrument nutzen. «Das ist anders als Referenden in der Schweiz genutzt werden, wo es immer um die Sache geht”, sagt Huang. Dies hat sich geändert: Ein Gesetz 2019 hat das gleichzeitige Wählen und Abstimmen abgeschafft. Trotzdem wirke die Tradition noch nach.

Tatsächlich haben auch Volksabstimmungen in der Schweiz eine Agenda Setting-Dimension. So sind die meisten Anliegen von Volksinitiativen erfolglos, bringen aber ein Thema aufs politische Parkett und üben so Druck aus. Referenden, mit denen Beschlüsse gestoppt werden können, bieten neben der Sachpolitik Parteien auch die Möglichkeit für eine Kampagne in ihrem Sinne. Doch anders als die Schweiz ist Taiwan eine viel jüngere Demokratie – und die direktdemokratischen Instrumente haben noch keine langjährige Tradition.

Direkte Demokratie und Energiepolitik in der Schweiz

Die Lobby der Nuklearenergie-Befürwortenden in der Schweiz hat die Abstimmung in Taiwan bereits kurz nach AnkündigungExterner Link aufgegriffen. In der Schweiz beschloss der Bundesrat nach Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie im Grundsatz – und seit 2017 gilt ein Neubauverbot. Doch seit kurzem setzt sich die Schweizer Regierung dafür ein, dass AKW-Neubauverbot wieder abzuschaffen. Dies, um mögliche Engpässe bei der Umstellung auf erneuerbare Energien auszugleichen.

Anfang Juli zeigte ein Bericht der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), dass das keine schnelle Sache wäre: Ein neues AKW könnte aufgrund der notwendigen politischen Prozesse kaum vor 2050 in Betrieb gehen. Die Politikwissenschaftlerin Isabelle Stadelmann-Steffen hat daran mitgearbeitet.

Beim Umstieg auf erneuerbare Energien sei die direkte Demokratie in der Schweiz «eher Barriere als Beschleuniger», sagt Stadelmann-Steffen. Ähnlich wäre es womöglich bei einem allfälligen AKW-Neubau. Die Zustimmung der Bevölkerung zur sogenannten Blackout-Initiative, die das aktuelle Verbot neuer AKWs aufheben will, wäre bloss die erste von «verschiedenen zentralen Entscheidungen», die die Schweizer Bevölkerung fällt, bis tatsächlich ein neues AKW gebaut würde.

Dass der Bundesrat der Blackout-Initiative mit einem entgegenkommenden Gegenvorschlag begegnet, zeigt für Stadelmann-Steffen, wie sich die politische Diskussion verschoben hat. Doch dies habe sich «bisher nicht wesentlich» auf die Sympathien für Atomkraft in der Bevölkerung ausgewirkt. Nach wie vor sei «ungefähr die Hälfte der Schweizer Bevölkerung für Atomenergie und ungefähr die Hälfte dagegen».

Die Perspektive der Schweizer:innen auf Kernenergie hängt, so Stadelmann-Steffen, auch mit Vertrauensfragen zusammen: «Will man das kleine Risiko für einen Reaktorunfall und mögliche Folgeschäden für die Umwelt tragen oder ist es doch zu gross? Kann die Gesellschaft den Umgang mit Nuklearabfällen bewältigen?”

In Taiwan sind diese Vertrauensfragen verflechtet mit dem Vertrauen in die Geopolitik: Wie sicher ist es, dass Energieimporte immer möglich sein werden? Nach den erfolglosen Recall-Abstimmungen könnte der direktdemokratische Konter der Opposition Erfolg bringen.

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Editiert von Balz Rigendinger

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