
Autoritäre Staaten verfolgen ihre Dissident:innen bis nach Genf – die Schweiz reagiert kaum

Autoritäre Staaten im Ausland machen bei der Repression auch vor der Schweiz nicht Halt. Genf, die Hauptstadt der Menschenrechte, ist dabei besonders exponiert. Eine Bedrohung, der sich die Behörden nur zögerlich annehmen.
«Ich hätte nicht erwartet, so etwas in Genf zu erleben», vertraut uns Basma Mostafa an, eine ägyptische Investigativjournalistin, die heute in Deutschland Zuflucht gefunden hat. «Sie haben mich drei Tage lang bis in mein Hotel verfolgt», erzählt sie über ihren letzten Aufenthalt in der Schweiz im vergangenen Jahr.
«Am dritten Tag sprach mich ein Mann an. Auf Arabisch sagte er mir, dass er wüsste, wer ich sei, dass er den ägyptischen Sicherheitskräften angehöre und mich verhaften könne, wenn er wolle», fügt die junge Frau hinzu, die seit mehreren Jahren unter der Repression ihres Herkunftslandes leidet. «In dieser Nacht konnte ich kein Auge zumachen. Ich hatte Angst, dass sie zurückkommen und mich entführen würden.»

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Mostafa weiss nicht genau, wer diese Männer waren, aber sie ist sich sicher, dass es sich um ihre Landsleute handelte. «Es war schrecklich. Ihre Technik ist, einen an ihren Grenzen zweifeln zu lassen, an dem, wozu sie wirklich fähig sind», sagt sie. «Sie spielen mit deinen Schwachstellen. Hier war es die Tatsache, dass ich allein in der Schweiz war, einem Land, das ich nicht kenne, weit weg von meiner Familie.»
Eine Repression, die Grenzen überschreitet
Die von der Ägypterin geschilderten Vorfälle fallen unter das, was man als transnationale Repression bezeichnet. Dieses Phänomen nimmt verschiedene Formen an: Drohungen, Einschüchterungen, Überwachung oder auch Druck auf die im Heimatland verbliebenen Familien. Ziel ist es immer, Kritiker:innen innerhalb ausländischer Diasporagemeinschaften zum Schweigen zu bringen.
Der Fall der Journalistin ist kein Einzelfall. «Transnationale Repression, insbesondere gegen Menschenrechtsverteidiger, ist eine sich verschärfende Tendenz», bestätigt Phil Lynch, Direktor der in Genf ansässigen NGO ISHR. Seiner Meinung nach ist dies ein «Risiko, das Aktivisten berücksichtigen müssen», wenn sie in die Schweiz reisen.
Genf ist ein günstiges Terrain
Denn die Stadt am Ende des Sees ist besonders exponiert. Die Präsenz des UN-Menschenrechtsbüros und des UN-Menschenrechtsrats, gepaart mit der Tatsache, dass fast alle Mitgliedstaaten über eine diplomatische Vertretung vor Ort verfügen, schafft ein günstiges Umfeld für Spionage und diskreten Druck.

«Es ist sehr schwierig, das genaue Ausmass dieser Repression in der Schweiz einzuschätzen, aber man kann davon ausgehen, dass es erheblich ist», erklärt Ralph Weber. Der Professor an der Universität Basel ist Autor einer Studie über jene Repression, der die tibetischen und uigurischen Gemeinschaften in der Schweiz ausgesetzt sind.
Die Ergebnisse des von der Regierung in Auftrag gegebenen Berichts wurden Anfang Jahr veröffentlicht. Gemäss dem Bericht liegt die Schwierigkeit hauptsächlich darin, dass die Opfer oft zögern, ihre Fälle zu melden – aus Angst vor Konsequenzen für ihre Familien.
Lynch bestätigt, dass seine NGO «eine Reihe von Fällen» dokumentiert hat, die unter anderem mit China, Russland und Ägypten in Verbindung stehen, darunter auch der Fall von Basma Mostafa.
Er nennt jedoch keine genauen Zahlen. «Diese Handlungen reichen von Drohungen über Überwachung bis hin zu Verfolgung und Einschüchterung», präzisiert er und sagt, dass sie sowohl auf Schweizer Boden als auch innerhalb der Vereinten Nationen stattfinden.
Im April enthüllte die internationale Untersuchung «China Targets», wie China seine Dissident:innen in Genf überwacht und einschüchtert, insbesondere indem es sie bei Demonstrationen oder bei Besuchen im Palais des Nations fotografiert.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) gibt auf Anfrage an, keinen Gesamtüberblick über die Fälle transnationaler Repression auf Schweizer Territorium zu haben.
Ein globales Phänomen
Seit 2014 hat die amerikanische NGO Freedom House mehr als 1200 Fälle transnationaler Repression in rund hundert Ländern erfasst. Gezählt werden nur sogenannte «physische» Vorfälle, wo 48 Staaten gezählt wurden, die Entführungen, willkürliche Inhaftierungen, Übergriffe oder illegale Ausweisungen vorgenommen haben.
Darüber hinaus haben 19 Länder Spionagesoftware eingesetzt, um ihre Gegner:innen zu verfolgen. Die Schweiz wird in der Studie nicht erwähnt.
Hauptverantwortliche sind unter anderem China, die Türkei, Russland, Ägypten, der Iran sowie mehrere zentralasiatische Länder.
In der Schweiz konzentriert sich der in diesem Jahr veröffentlichte Bericht des Bundesrates auf Tibeter:innen und Uigur:innen, die mit Drohungen und Überwachung durch China konfrontiert sind.
Der Bericht nennt auch Russland, den Iran, die Türkei und Eritrea als Haupturheber ähnlicher Handlungen. «Es ist kein neues Phänomen, aber die heutigen technologischen Möglichkeiten machen die Kontrolle der Diasporagemeinschaften einfacher und effektiver», sagt Weber.
Politisches Bewusstsein
Die Veröffentlichung des Berichts markierte die erste offizielle Anerkennung des Problems durch die Eidgenossenschaft. Ein Signal, das von den NGOs, die die Opfer verteidigen, begrüsst wurde.
«Es ist ein Problem, das die zuständigen Behörden zunehmend ernst nehmen», sagt Lynch von ISHR. Seiner Meinung nach haben die Schweiz und Genf als Gastgeber des internationalen Menschenrechtssystems «eine Verantwortung zu gewährleisten, dass es für Aktivisten, die dort ihre Stimme erheben wollen, sicher zugänglich ist».
Er stellt «eine Stärkung der Fähigkeiten der Strafverfolgungsbehörden fest, Akte transnationaler Repression zu erkennen, zu melden und darauf zu reagieren», betont jedoch, dass mehr getan werden könnte.
Diese Ansicht teilt auch Selina Morell, Leiterin des China-Programms bei der in Bern ansässigen NGO Voices. Ihrer Meinung nach sollte die Eidgenossenschaft eine klare Definition dessen erstellen, was transnationale Repression ist, und eine nationale Strategie entwickeln, um darauf zu reagieren.
Dies wäre ihrer Meinung nach eine Möglichkeit, ein Signal zu senden, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um systematische Belästigung, die auch gewöhnliche Menschen betrifft.
Weitere Informationen über den Druck, dem die tibetische und uigurische Gemeinschaft in der Schweiz ausgesetzt ist, finden Sie in unserem Artikel zum Thema:

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So überwacht China die tibetischen und uigurischen Minderheiten in der Schweiz
Eine noch zögerliche Reaktion
Die Schweiz bleibt vorsichtig. Während die Vereinigten Staaten, Kanada und das Vereinigte Königreich spezifische Gesetze zur Bekämpfung dieses Phänomens verabschiedet haben, erwähnt Bern im Bericht mehrere zu prüfende Ansätze, darunter bilateraler Dialog, Sensibilisierung, Austausch mit Diasporagemeinschaften und die Einrichtung einer Beratungsstelle.
Das EJPD gibt an, dass «die Arbeiten im Zusammenhang mit den nationalen Massnahmen […] in Vorbereitung sind und im ersten Halbjahr 2026 beginnen sollten». Zudem habe das Aussenministerium seine Bedenken bezüglich China in seinem Dialog mit Peking zum Ausdruck gebracht.
«Der Bundesrat kann nicht länger die Augen verschliessen. Er kennt jetzt das Ausmass des Phänomens. Es ist Zeit zu handeln», sagt Morell. Sie fordert die Einrichtung einer Stelle, bei der Opfer Missbräuche melden können, und eine öffentliche Stellungnahme der Schweiz, wenn sie von solchen Fällen erfährt. Für die schwerwiegendsten Fälle sollten Sanktionen in Betracht gezogen werden, sagt sie.
Zur Erinnerung: Die Veröffentlichung des Bundesratsberichts war verzögert worden, offiziell aufgrund einer Änderung der Prioritäten innerhalb der Bundesverwaltung nach der Invasion der Ukraine.
Kritische Stimmen vermuten jedoch vor allem den Wunsch, Peking während den Verhandlungen über die Aktualisierung des Freihandelsabkommens nicht zu verärgern, da China der wichtigste asiatische Handelspartner der Schweiz ist.

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Das Internationale Genf
Spannungen zwischen Interessen
«Es ist wichtig, Akte transnationaler Repression anzuprangern, wenn sie stattfinden. Aber es wäre naiv zu glauben, dass dies ausreichen könnte, um das Land, das sie orchestriert, abzuschrecken. Es wird einfach einen anderen Weg finden, Druck auszuüben», warnt Professor Ralph Weber.
Seiner Meinung nach wird die Schweiz trotz eines wachsenden Bewusstseins von einem gewissen Pragmatismus geleitet. «Es gibt politische Kalkulationen, Druck, insbesondere wirtschaftlicher Art. Aber wenn wir durch zu viele Kompromisse riskieren, unsere eigene Verfassung zu verletzen, dann steht die Legitimität des Rechtsstaats auf dem Spiel.»
Als Gastland der Vereinten Nationen befindet sich die Schweiz in einer besonders heiklen Position; sie muss sowohl die Attraktivität des internationalen Genfs für die Mitgliedstaaten gewährleisten als auch sicherstellen, dass diese dort nicht ungestraft Missbräuche begehen können. Denn für viele Opfer von Repression stellt der Genfer Sitz der UNO oft eine letzte Zuflucht dar.
Editiert von Imogen Foulkes und Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen mithilfe der KI Claude: Janine Gloor
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